Dangerzone
Nach dem Tod ihres Opas lebt Seraphina als einziger Mensch in einer Welt, in der Mythen, Legenden, und Fabelwesen real sind. Als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, trifft sie auf den äußerst dominanten Gestaltwandler Sun, der sofort ihre vollkommene Unterwerfung fordert. Stur wie sie ist, wehrt sie sich mit aller Macht dagegen, aber vorrangig gegen ihren Körper, der sich ihm vom ersten Moment an hingeben will.
Als auch noch Ice – ein Werwolf – auf der Bildfläche erscheint, ist das Chaos perfekt. Denn nun ist es ihr Herz, dem sie verweigern muss, was es so dringend braucht. Für wen sie sich entscheiden und ob Seraphina lernen wird, sich in dieser verrückten Welt zurechtzufinden, sich ihnen zu unterwerfen und gleichzeitig ihren freien Willen zu bewahren, hängt am Schluss nicht nur von ihr ab. Eines jedoch ist gewiss: Sie wird kämpfen, keine Sklavin werden und die Hoffnung genauso wenig wie ihre Menschlichkeit, aufgeben! Dank erotischer Szenen erst ab achtzehn! |
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Leseprobe
Prolog
»Es existierte einmal eine wundersame Welt voller zweibeiniger Geschöpfe. Milliarden von ihnen hausten auf dem Planeten namens Erde, welcher hauptsächlich aus Wasser, aber teilweise auch aus Land bestand. Dort lebten sie zumeist in Gemeinschaften, da sie nicht allein sein wollten, denn die Einsamkeit zerstörte ihre Seelen.
Sie trafen sich entweder in sogenannten Cafès, wo sie ein arabisches Heißgetränk nach dem anderen schlürften, oder in riesigen Sälen, wo man auf großen Leinwänden Geschichten von Artgenossen mitverfolgte, um den eigenen Alltag für ein oder zwei Stunden hinter sich zu lassen. Diese Geschöpfe nannte man Menschen. Sie gingen diversen Tätigkeiten nach oder besuchten seltsame Einrichtungen, beispielsweise einen Friseur, um ihre Schönheit hervorzuheben, oder Supermärkte, um ihre Lebensmittel, Pflegeartikel und Kleidung mit runden silbernen, kupfernen, goldenen Münzen oder einfachen Scheinen zu bezahlen und mir nichts dir nichts mit nach Hause zu nehmen.
Viele von ihnen meinten, dass Geld (so nannten sie es) ein Segen sei. Für andere war es jedoch ein Fluch.
Manchmal tanzten sie ganze Nächte an Orten, die meist grell erleuchtet und so laut waren, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstanden. Die Zweibeiner liebten Musik, Geselligkeit und die Selbstdarstellung. Nur deshalb taten sie sich das an.
Es waren aber auch gefühlsbetonte Wesen, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnten. So bildeten sie Familien. Meist bestanden diese aus einer Frau, einem Mann und ein paar Kindern. Manchmal lebten auch zwei Männer und zwei Frauen zusammen, aber das ist eine andere Geschichte. Die Frau hatte oftmals intern das Sagen, aber nach außen hin bestimmte der Mann.
Die Fortpflanzung war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
So kam es, dass einige dieser Familien ein, zwei oder drei Kinder hatten. Die Unersättlichen sogar zehn. Diese kleinen Menschen durften auf Spielplätzen ihren Spieltrieb ausleben und fröhlich sein. Mit Schaukeln in die Luft fliegen oder über Rutschen der Erde entgegensausen. Alles wurde für sie getan und man versuchte, ihnen den größtmöglichen Schutz zu gewähren.
Eine Familie passte im besten Fall aufeinander auf und respektierte sich gegenseitig.
Außerdem entwickelten sie sich permanent weiter – sie wollten immer besser und schneller werden als die Natur sie erschaffen hatte. Sie optimierten ihre Fortbewegung, vermutlich waren sie auf zwei Beinen zu langsam, und erfanden merkwürdige Blechkisten mit vier elastischen Reifen an der Unterseite. Damit rollten sie in schneller Geschwindigkeit über glatte und graue Wege, vorbei an Bäumen, Stränden, Bächen, Flüssen, Feldern, Wiesen und Häusern.
Ihre Unterkünfte waren sehr verschieden. Einige lebten in steinernen viereckigen Bauten, die schier bis zum Himmel reichten, als wollten sie die Göttlichkeit umarmen, an die manche glaubten. Einige gaben sich mit kleinen Eishäuschen zufrieden oder mit Lehmhütten, mitten in der trockenen heißen Wüste, die nur aus Sand bestand. Viele hatten allerdings nichts und lebten von der Hand in den Mund unter freiem Himmel. Wohingegen andere so viel Platz besaßen, dass sie sich in ihren eigenen vier Wänden verliefen. Wieder andere konnten nicht mehr als ein Bett in einer kleinen Kammer ihr Eigen nennen und waren dennoch zufrieden. Es handelte sich um anpassungsfähige Wesen.
Manche waren arm und manche reich. Es hing nicht davon ab, wie gut oder schlecht sie sich benahmen und nach welchen Moralvorstellungen sie lebten, sondern davon, wie viel Ehrgeiz sie besaßen, und wie viel Glück sie hatten.
So verschieden, wie ihre Lebensweisen aussahen, verhielt es sich auch mit ihrer Sprache und ihrem Aussehen. Sie waren groß, klein, dünn, dick, hatten verschiedene Haarfarben, Hautfarben und sogar unterschiedliche Gesichtsformen. Jeder von ihnen sah anders aus.
Jeder von ihnen dachte anders.
Deswegen führten sie oft unerbittliche, grausame Kriege. Die Unschuldigen wurden für den Sieg der Schuldigen geopfert. Einige wollten anstatt Liebe und Geborgenheit eben auch Ruhm und Macht.
Ihre Ansichten waren so verschieden wie die Sonne und der Mond, doch eins hatten sie alle gemeinsam:
Sie besaßen Hoffnung …
Und solange diese nicht stirbt, werden wir überleben, auch in dieser Welt.
Einer Welt, in der die Menschen zu den Mythen und Legenden gehören und die Fabelwesen Realität sind.«
1.
Sterben zwischen Holzwürmern. So fängt der Tag ja gleich gut an!
Hier lag ich also, in dieser feuchten modrigen Baumhöhle und wusste, dass mein Leben bald vorbei sein würde.
Jeden Moment würde das riesige Raubtier seine Nase in die Luft erheben und meine Witterung aufnehmen. Es würde mich riechen – einen Menschen – ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte. Ich war sozusagen eine Rarität – und dennoch nichts weiter als ein kleiner Snack zwischendurch.
Verflucht! So wollte ich nicht enden!
Ich rollte mich weiter zusammen, versuchte so leise zu atmen, wie es mir möglich war, und presste die eiskalten Fäuste fester gegen meine Brust. Der Atem entkam meinen bebenden Lippen in dampfenden Wölkchen und meine Füße wurden sicher schon blau. Die von meinem Opa selbst gemachten Lederschuhe waren löchrig und an den Sohlen so dünn, dass sie bald durchscheuern würden.
Opa. Als ich an ihn dachte, traten Tränen in meine Augen.
Ich erinnerte mich an eines der unzähligen Märchen, von denen er mir immer erzählt hatte: Von der Menschenwelt, in der sehr viele von uns lebten; in der wir die Herrscher waren und wir die Macht besaßen; in der Elfen, Zwerge, Einhörner, Greife, Gnome, Zyklopen, Pane, Nymphen, Gestaltwandler und viele weitere wundersame Wesen Geschöpfe aus Legenden und Mythen waren.
Ich fühlte mich wie das Mädchen aus der Geschichte Alice in Wunderland, von dem mir Opa erzählt hatte, und das war ich auch.
Aber jetzt war es vorbei ...
So lange hatten wir es geschafft, unentdeckt unter ihnen, den Monstern, zu leben. Ganze neunzehn Jahre war ich mittlerweile alt. Mein Opa hatte mir beigebracht, wie ich unter freiem Himmel überlebte, wo ich mich verstecken konnte, wie ich Kleidung und meine eigenen Waffen herstellte. Er hatte mir gezeigt, wer Freund und wer Feind war. Wie ich, trotz der bedrückenden Welt, in welcher wir Eindringlinge waren und erbarmungslos gejagt wurden, am Leben blieb und manchmal … aber nur dann, wenn ich am Abend zum Schlafen meinen Kopf auf seinen Schoß legte, er mir mit seiner knochigen Hand durch die Haare strich und mir seine Märchen erzählte … durfte ich sogar ein klein wenig erfahren, wie es sich anfühlte, glücklich und unbeschwert zu sein.
Ich hatte mich mit meinem Leben hier abgefunden.
Doch dann fanden sie unser Versteck.
Die Wölfe rissen Opa vor meinen entsetzten Augen in blutige Stücke. Ich konnte mich nur retten, weil sie zu beschäftigt damit waren, das dampfende, frische Fleisch zu verschlingen und sich gegenseitig anzuknurren, anstatt auf mich zu achten. Also rannte ich, so schnell mich meine trainierten Beine trugen, während mich das Reißen des Fleisches und das Knacken der Knochen meines einzigen Vertrauten und Verwandten verfolgten. Ich würde diese grauenhaften Geräusche nie wieder vergessen.
Das war vor zwei Tagen geschehen. Seitdem hatte ich weder gegessen noch getrunken, weil er mich jagte.
Wofür hatte ich mir bitte meine Hände blutig gekratzt und lag hier hungernd und durstig herum, wenn sie ja doch kommen und mich fressen würden? Ich wollte nicht bei vollem Bewusstsein verschlungen werden! Da wäre mir so gut wie jede andere Todesart lieber.
Na gut … es gab da vielleicht doch noch ein paar Arten des Ablebens, die ...
Knack.
Da! Jetzt war es … nein er … ganz nah.
Ich hielt unwillkürlich die Luft an und sogar mein eiskalter Körper hörte auf zu beben. In Zeitlupe drehte ich meinen Kopf und sah nach rechts, denn von da kam das Geräusch. Dort stieg etwas Dampf auf, wie auch aus meinem Mund. Dann hörte ich den schweren Atem der riesigen Raubkatze.
Wie gebannt starrte ich an die Stelle, bohrte dabei meine Fingernägel in die Innenfläche meiner Hände, um sie vom Zittern abzuhalten, und merkte, dass mir der Atem bald ausgehen würde. Natürlich musste meine Kehle in genau so einem Moment anfangen zu kratzen, sodass sie förmlich nach Erlösung schrie. Toll! Tod durch Husten. Als würde es noch nicht reichen, dass ich meinen Opa verloren hatte, nun ganz allein war und in dieser seltsamen Welt leben musste, in der man zwangsläufig verrückt wurde, nein, diese Bestie würde gleich mein Ende besiegeln weil ich husten musste.
NEIN!
Während ich also gegen das Kitzeln in meinem Hals ankämpfte, regte sich mein Kampfgeist. Gleichzeitig erinnerte ich mich an den Dolch, den mir Opa geschenkt hatte. Er steckte in den ineinander verwobenen, dicken Lianen, die ich mir als Gürtel und Taschenhalter um die Hüfte gebunden hatte, nur leider an meiner linken Seite – und auf der lag ich dummerweise. Ich würde nicht schnell genug rankommen. Die Bestien waren unglaublich schnell, viel schneller als ein normaler Mensch. Wieso hatte ich mich nicht gleich mit dem Dolch in der Hand zum Sterben in diese Baumhöhle gezwängt? Das war ja nun wirklich dämlich! Wenn ich schon das Zeitliche segnete, dann wollte ich das wenigstens nicht kampflos tun. Wozu hatte mir Opa das Kämpfen beigebracht? Und das ziemlich gut, denn ansonsten würde ich jetzt nicht mehr leben. Woher das der alte Mann konnte, wusste ich nicht. Er redete niemals über seine Vergangenheit, sagte immer nur mit seiner leicht knarzigen Stimme: Die Vergangenheit ändert nichts an der Zukunft. Wozu sich also übermäßig mit ihr befassen? Und damit hatte er recht. Das Wichtigste war das Hier und Jetzt. Nur dieser Moment zählte, in dem sich entscheiden würde, ob ich leben oder sterben würde.
Ich wusste, dass der Jäger mich, die Beute, genau spürte. Aber wieso zerrte er mich nicht endlich aus meinem Versteck? Kam der Wind aus der falschen Richtung und er konnte mich nicht wittern? Oder hatte er einfach Spaß an der Jagd? Wahrscheinlich machte es ihn sogar an, meine Angst zu riechen, das Vibrieren meines Körpers zu fühlen und meinen rasenden Herzschlag zu hören.
Er wusste doch sowieso, dass ich hier drin war. So nah, wie er mir war, musste er es einfach merken. Also spielte es doch keine Rolle, ob ich mich bewegte oder nicht, ob ich laut war oder nicht.
Der Husten ließ sich ohnehin nicht mehr viel länger aufhalten.
Also drehte ich mich langsam und vorsichtig auf den Rücken, ließ dabei die Ecke nicht aus den Augen, von der ich vermutete, dass er dahinter lauerte. Mein einfaches, dreckiges Leinentuch, das ich mir um den Körper gebunden hatte, gab ein raschelndes Geräusch von sich und ich erstarrte.
Gleich würde er angreifen. Er musste es gehört haben. Der Dampf versiegte und ich glaubte, er hielt die Luft an, genauso wie ich. Tränen sammelten sich in meinen Augen, als mein Hals immer mehr kratzte. Meine Brust zog. Ich zitterte. Der Schweiß stand mir mittlerweile nicht nur auf der Stirn, er überflutete mein ganzes Gesicht.
Scheiß-Gesamtlage, würde ich sagen.
Doch er griff immer noch nicht an!
Okay, er wollte es noch hinauszögern. Gut so. Dann lass mich mal schön nach meinem Messerchen greifen. Es wäre nicht die erste Raubkatze, der ich den Hals aufschlitzen würde. Na gut … die Erste war ein kleiner Luchs gewesen, der mich beim Osterhasenjagen überrascht hatte. Er war noch jung gewesen und kein Gestaltwandler. Und ich war verdammt noch mal sauer, weil er den Hasen, samt der Eier vertrieben hatte.
Die Wut und der Hunger gaben mir ungeahnte Kräfte, als er mich ansprang. Der Luchs bestand nur aus sehnigen Muskeln und gierigen gelben Augen. Ich ließ mich einfach von ihm niederreißen und zog noch im Fallen meinen Dolch. Den zerrte ich ihm einmal quer über den Hals, doch ich konnte ihn nur ein wenig anritzen. Denn es ist gar nicht so leicht, eine Kehle aufzuschlitzen, besonders die mit dichtem Fell. Nicht dass ich aus Erfahrung sprechen könnte, aber Opa brachte mir unheimlich viel bei und ich war eine gelehrige Schülerin. Manchmal dachte ich, das war mehr, als ich jemals wissen müsste, aber in unserem Leben gab es immer wieder Situationen, die jedes noch so kleine Detail nützlich machten. Also blieb ich eine gelehrige Schülerin und versuchte mir alles zu merken, was er mir erzählte.
Die Raubkatze fauchte, knurrte und sabberte mich an. Nie werde ich das vergessen, denn sie stank aus dem Maul wie ein Zwergenplumpsklo. Dieses Mistvieh kratzte mir damals meine komplette rechte Seite auf. Ich brüllte wie am Spieß irgendwelche Schimpfwörter, die mein Opa immer benutzte, wenn er wütend war oder unter Stress stand. Der Luchs war eine Millisekunde lang von den grellen Geräuschen irritiert und legte die Ohren nach hinten, als würde ihm mein Schrei Kopfschmerzen bereiten. In dem Moment stach ich einfach zu, direkt in die Schlagader an der Seite seines Halses. Mit einem Mal erstarrte die Raubkatze. Rotes, dickflüssiges Blut lief heiß an meinen Arm herab – besudelte mich und roch intensiv metallisch. Als ob der Plumpsklo-Sabber nicht schon gereicht hätte. Keuchend sah ich ihm in die Augen, während darin das Leben Stück für Stück erlosch. Dann sackte er auf mir zusammen.
Opa konnte es nicht glauben, als ich ihm, auf meinen eigenen Schultern, einen Luchs brachte, und war mächtig stolz auf mich. Ich tötete nicht gerne, aber Opa hatte mir als Erstes beigebracht, dass man in dieser Welt entweder frisst oder gefressen wird. Ich konnte mich nur schwer mit dem Gedanken abfinden, von scharfen Zähnen zerrissen, gekaut und anschließend geschluckt zu werden, also ging ich dazu über, auf der anderen Seite des Buffets zu stehen.
Auch hier und jetzt würde ich ein Leben beenden. Oder … sagen wir, ich würde es zumindest versuchen. Wahrscheinlich standen meine Chancen nicht sehr gut, aber ich hatte eine Devise: Auf keinen Fall kampflos aufgeben und niemals die Hoffnung verlieren! Wenn ich jemals etwas verinnerlicht hatte, dann ganz bestimmt das.
Also pfiff ich auf das Hören oder Nichthören, denn das war hier nicht die Frage, und veränderte meine Position so schnell, wie ich konnte. Dabei hob ich meinen Hintern, soweit es die Wurzeln über mir zuließen, ergriff den hölzernen, schnörkellosen Griff meines Dolches, zog ihn aus der selbst gemachten Scheide und hielt ihn fest in meiner rechten, leicht zitternden Faust, während ich darauf wartete, dass sich das Monster endlich über mich, sein Abendessen, hermachen würde.
Der Husten quoll fast aus meinem Mund. Meine Augen wurden wieder ganz glasig beim Versuch, das Kratzen noch mal hinunterzuschlucken. Ich hielt es nicht mehr aus … und ließ es einfach geschehen!
Er kam ... aber nicht von rechts … Nein, nein, denn Gestaltwandler sind schlau. Sie sind das, was uns Menschen am ähnlichsten ist, in ihrer » ›Menschenform‹« natürlich. Denn er, beziehungsweise ein weit aufgerissenes, rosa Maul mit messerscharfen blitzenden Zähnen, kam von oben! Die Raubkatze brüllte mich an, und ich bekam die volle Dröhnung ab. Mein bisschen Bauchspeck zitterte, doch ich ließ mich davon nicht irritieren und schoss aus meinem Versteck. Ich wusste, ich hatte nur die eine Möglichkeit, dann hieß es laufen, was das Zeug hält.
Ich brüllte ebenso, einfach, weil es mir Mut machte, und trieb meinen rechten Arm nach vorne. Die Klinge blitzte auf. Ich wollte ihn am Hals treffen, doch er zog sich blitzartig nach oben zurück, also zwängte ich mich, so schnell es ging, aus meinem Versteck, welches mir sowieso nichts genützt hatte.
Mein Fuß verfing sich in einer dieser verflixten Wurzeln. Natürlich fiel ich mit viel Schwung und dem Gesicht voran in das feuchte Laub und hustete dort auch noch weiter, als hätte ich alle Zeit der Welt und als würde mein Leben nicht gerade am seidenen Faden hängen. Die Blätter wirbelten nur so herum und verfingen sich in meinen wirren Haaren. So viel zu meinen kämpferischen Fähigkeiten! Ja, okay, ich war eine Null und dazu auch noch ein Trampeltier. Das mit dem Luchs war eigentlich mehr Zufall als Können gewesen. Aber ich versuchte es wenigstens, und auf den Kampfgeist kommt es letztendlich an, nicht wahr?
Gerade drehte ich mich auf den Rücken und befreite meinen Fuß, indem ich ihn aus dem Lederschuh zog, da sprang er auch schon mit einer geschmeidigen Bewegung herab, direkt über mich.
Er war imposant, denn einen so großen und einschüchternden schwarzen Panther hatte ich noch nie gesehen. Ehrlich, der war riesig! Wie er mich fixierte, wirkte er wie ein Gorgone und ich erwartete jeden Moment, zu Stein zu erstarren! Zwar hatte er keine steinharte Haut und Hörner, aber dafür scharfe, gefährliche Krallen, einen muskulösen wendigen Körper und Reißzähne, die so lang waren wie mein Daumen.
Seine glühenden orange-gelben Augen, die mich an einen zerstörerischen Waldbrand erinnerten, nahmen mich ins Visier, während er seine muskelbepackten Pfoten rechts und links neben mein Gesicht stemmte. Eine stellte er sicherheitshalber auf meinen Haaren ab und hielt mich damit am Boden fest. Verfluchter Gestaltwandler! Ein normales Tier hätte so etwas nie gemacht! Er sah überhaupt nicht gierig oder hungrig aus, nein, eher interessiert. Die runden Ohren waren wie bei einem neugierigen Kätzchen nach vorne gedreht.
Sein Fell war so schwarz wie ein Abgrund und glänzend wie die Nacht, aber so samtig wie Kaschmir. Es lud mich ein, meine Finger darin zu vergraben und zu erfahren, ob es wirklich so seidig war, wie es aussah. Was natürlich eine absolut dämliche Idee war. Das hier war kein Schmusekätzchen, nein, ganz im Gegenteil. Mir fiel auch spontan auf, dass er nicht aus dem Maul stank, als er sich über mich beugte. Seine kühle und feuchte Nase schnüffelte geräuschvoll an meiner Schläfe. Die festen Schnurrhaare piekten mir in die Wangen. Sein heißer Atem fegte über mich hinweg und ich wollte am liebsten aus vollem Halse schreien. Doch ich brachte keinen Ton heraus. In meinem Hals saß nicht nur ein Kloß, sondern eine ganze Kloßsuppe.
Feucht schnaubte er in mein Ohr und machte ein mehr als lustiges Geräusch, bei dem ich fast gekichert hätte, so verrückt die Lage auch war. Es erinnerte mich an ein kleines niedliches Niesen. Die Raubkatze hob, mich immer noch musternd, den Kopf und zog die Lefzen etwas zurück, als wäre er verwirrt oder besser angeekelt und verwirrt.
Arroganter Arschkater!
Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen.
Fast schon spöttisch sah er auf mich herab. So, als würde er darauf warten, was ich als Nächstes tun würde.
In dem Moment fiel mir mein Dolch ein, den ich noch in der Hand hielt. Aber meine Mimik musste mich verraten haben, denn er blickte ebenfalls auf meine Waffe, die ich ihm kurz darauf mit der Spitze voraus warnend gegen die muskulöse Brust drückte. Vor Nervosität presste ich die Lippen aufeinander und meine Nasenflügel begannen zu flattern.
Er rollte mit den Augen. Er rollte mit den Augen?
Meine wurden jedenfalls groß und ich wusste nicht, ob ich richtig gesehen hatte. Auch wenn dies ein Gestaltwandler und somit ein menschenähnliches Wesen war, so hatte ich noch nie eines dieser Biester die Augen verdrehen sehen. Wenn sie in Tiergestalt waren, dann dachten sie wie Tiere, und benahmen sich wie eben jene! Dieser anscheinend nicht, denn ein Tier ist nicht lebensmüde. Dieser Panther offensichtlich schon.
Er drückte nämlich mit einem Mal seine samtige Brust gegen die silbern glänzende Klinge, rieb darüber, schmuste mit ihr und schnurrte auch noch dabei! Forderte mich regelrecht auf zuzustechen. Ich hätte schwören können, er lachte mich hinter diesen Sonnenuntergangsaugen aus.
Das machte mich wütend. Mehr als das! Er dachte, ich würde es nicht tun? Er dachte, ich hätte nicht den Mumm dazu? Da kannte er mich aber nicht, was genau der Wahrheit entsprach! Glaubte er etwa, er könnte mich mit seiner menschlichen Fassade hinters Licht führen? Dachte er, ich wüsste nicht, dass er mir jeden Moment die Kehle durchbeißen und mein Fleisch fressen würde, sobald ich unachtsam wurde?
Ich nahm das Angebot an und stach kurzerhand mit aller Kraft zu. Dämlicherweise rutschte ich etwas an dem steinharten Brustbein ab, dennoch, das Messer war scharf genug, um tief unter die Haut zu dringen.
Seine Augen spiegelten mehrere Facetten wider, wurden erst groß … dann ungläubig, und als er taumelnd einen Schritt zurückwich, glaubte ich ein wenig Angst in ihnen zu erkennen … oder war es vielleicht sogar Respekt? Sein Maul öffnete sich und er brüllte mich schließlich so an, dass mein Haar nach hinten flog, als würde ich vor einem überdimensionalen Föhn stehen.
Nun war es an mir, panisch zu reagieren.
Ich war längst dabei mich aufzurappeln. Es gelang mir trotz des rutschigen, nassen Laubes wunderbar, mich mal nicht wie eine Pfeife zu blamieren, und schon war ich wieder auf der Flucht. Mein Blick fiel auf die Klinge. An ihr klebte frisches rotes Blut. Blut, welches ich gerade vergossen hatte ... Im Laufen bekreuzigte ich mich und legte noch einen Zahn zu.
Die laublosen, dürren Bäumchen um mich herum spendeten keinerlei Deckung, so blieb mir nur zu hoffen, dass er allein unterwegs war und nicht noch ein paar Artgenossen die Jagd aufnahmen.
Viele Meter weit folgte mir sein wütendes Brüllen. Es schien von allen Seiten des Waldes widerzuhallen und es klang echt verdammt sauer. Wenn der mich jetzt in die Krallen bekäme, würde er mich nicht nur einfach töten, sondern langsam und qualvoll filetieren!
Wieso konnten sie uns nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso mussten sie uns jagen wie Tiere? Tja ... Weil sie es können … Wir sind nichts als magielose, schwache, kleine Mini-Insekten. Wieso dann nicht zerquetschen? Wenn die Menschen diese Macht über die Tiere hätten, würden sie auch nicht anders handeln, dachte ich sarkastisch an Opas Worte zurück und war froh, dass mein Körper drahtig und trainiert war, ansonsten hätte ich in dem Tempo nicht weit laufen können.
Das anklagende Brüllen verfolgte mich immer noch. So rasend und doch so verletzt, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam.
Mit einem Mal hörte es auf und ich wollte mich schon fast umdrehen. Doch ich lief weiter und schaute auf meine Füße – wovon nur noch einer in einem Schuh steckte –, die über das Laub fegten. Verdammt!
»Warte!« Wie angewurzelt blieb ich stehen, als eine schmerzverzerrte, männliche Stimme nach mir rief. Ich konnte das Tier verwundet und sterbend zurücklassen, aber ganz sicher nicht den Menschen.
Oh nein ... lauf einfach weiter ... schrie mein Instinkt, aber ich konnte ... nicht. Also seufzte ich tief und drehte mich langsam und geschlagen um.
Er lag auf der Seite im bunten Laub und krümmte sich vor Qualen. Eine Hand presste er auf seine nackte Brust. Die schwarzen samtigen Haare waren kurz, sehr kurz und dicht, fast wie das Fell. Der Mann keuchte und fluchte zwischendurch.
Mit wilden Augen sah er auf und erkannte, dass ich tatsächlich stehengeblieben war.
Sein Blick traf mich bis ins Mark. Er wirkte einerseits so menschlich, aber andererseits deutlich animalisch. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich in diese tiefen gelb-orangenen Infernos schaute. In dieselben Augen, die er auch als Panther besaß. Gequält streckte er auch noch eine große zitternde Hand nach mir aus und gab ein geflüstertes »Bitte ...« von sich.
Wieso machte mich das jetzt schon wieder wütend? Ja okay, ich war hungrig, durstig und unausgeschlafen, deswegen auch leicht reizbar, was wahrscheinlich auch meine nächste dämliche Tat erklärte. »Was heißt hier ›Bitte‹«, schrie ich ihm zu, stapfte aber zurück. »Sollte es nicht eher heißen, entschuldige?«
Er verzog das Gesicht, als ihn eine neue Welle Schmerzen übermannte, und drückte sich die Hand an die Brust, welche er eben noch nach mir ausgestreckt hatte. Deutlich sah ich, dass er im Moment nicht antworten konnte.
Als ich vorsichtig näherkam, erkannte ich, wie glatt sein nackter Körper war, überhaupt nicht haarig … und war froh, dass er zusammengekauert auf der Seite lag, sodass ich mit den männlichen Merkmalen nicht konfrontiert wurde. Ich hatte davor noch nie einen Mann nackt gesehen. Zum Glück. Selbst bei meinem Opa blieb mir dieser Anblick erspart, weil ich mich aus Respekt immer umgedreht hatte, wenn es die Situation erforderte.
War jeder Mann so muskulös? Wahrscheinlich nicht. Ein Faultier-Gestaltwandler war sicher dick und träge. Der hier wirkte eher langgezogen, drahtig und war eindeutig am Verbluten. Unter ihm bildete sich bereits eine tiefrote Lache. Ich musste eine Arterie getroffen haben. Dafür schlug ich mir voller Stolz auf die Schulter, natürlich nur mental.
Ich beugte mich für meine nächsten Worte hinab, flüsterte sie ihm langsam und betont zu: »Du wolltest mich fressen, du Monster! Und jetzt willst du meine Hilfe? Vergiss es! Schmecke deinen eigenen Tod.« Seine Augen öffneten sich wieder. So … unschuldig und verwirrt.
»Du bist wirklich ein Mensch«, presste er mit tiefer Stimme hervor, die sich unauffällig um meinen Geist schmiegte, auch wenn sie vor Schmerzen verzerrt war. Nur mit einiger Anstrengung sprach er weiter. »Das kann nicht sein, es gibt keine … Menschen. Ich muss … bereits … tot sein.« Er lachte, eindeutig humorlos und rollte sich auf den Rücken. Ich zuckte zusammen, weil ich Dinge sah, die ich nicht sehen wollte, und schlug eine Hand vor meine Augen. Angestrengt hustete er. Worauf er keuchte und wieder eine Hand auf seine Wunde presste.
»Du bist nicht tot«, versicherte ich ihm ironisch. Irgendwie irritierte er mich und sein nackter Körper erst recht. Die Lache unter ihm wurde immer größer. Sein leicht vernebelter und etwas verwirrter Blick suchte wieder den meinen. Dann streckte er erneut die Hand nach mir aus, während er selbstvergessen auf dem kühlen Waldboden lag. Ich war froh, dass er sich nicht wie eine Katze hin und her rollte. Er sah irgendwie danach aus, als würde er so etwas gerne tun … und es würde sicher gut aussehen.
»Bitte«, wiederholte er leise. Fast wie eine Aufforderung.
»Was denn schon wieder?« Ich zog eine Augenbraue skeptisch nach oben.
»Bitte, darf ich dich berühren? Ich habe noch nie …«, er hustete, »einen Menschen berührt.«
Meine Augen wurden groß. Damit hatte ich nicht gerechnet. Stattdessen hatte ich gedacht, er würde mich anbetteln, damit ich ihm das Leben rettete, aber nicht darum, mich anzutatschen.
»Angeschnüffelt hast du mich ja sowieso schon …«
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. Wenn das der letzte Wunsch dieser Bestie war, dann konnte ich mich wohl als gnädig erweisen.
Also kniete ich mich neben ihm nieder und reichte ihm netterweise meine Hand. Sie zitterte kein bisschen und ich war wieder mal sehr mit mir zufrieden. Er nahm sie ein wenig zaghaft. Seine war blutverschmiert, meine dreckverkrustet. Wir ergriffen unsere Hände, als würden wir sie jeden Moment schütteln, wobei meine kleine fast in seiner großen verschwand. Sein Daumen strich fasziniert und hauchzart über meine Haut, schickte kleine flimmernde Wellen durch meinen Körper, bis tief in meinen Bauch. Dabei betrachtete er mich forschend mit diesen großen, unschuldigen Augen und in diesem Moment wurde mir etwas klar, das mein Herz dazu brachte, geradewegs aus meiner Brust springen zu wollen.
Dieses Monster war schön.
Zu schön, um ein Monster zu sein und doch war er eines. Diese Welt war wirklich mehr als nur verwirrend.
Plötzlich huschte ein merkwürdiger Ausdruck über sein Gesicht. Nur eine Sekunde sah ich es und war sofort alarmiert, ohne erfasst zu haben, was die Veränderung in seinen Augen zu bedeuten hatte. Ich wollte meine Hand zurückziehen, doch schon wirbelte ich durch die Luft und landete auf dem Rücken …
Er … auf … mir.
Verdammt, der Arschkater hatte mich reingelegt!
»Glaubst du wirklich, so ein mickriger Stich kann mich töten?«, knurrte er in mein Gesicht, und ich blickte an die Stelle, wo sich seine glatte harte Brust gegen meine drückte. Sein Blut verschmierte meine Kleidung, obwohl sich seine Wunde bereits geschlossen hatte, als wäre niemals etwas gewesen.
Entrüstet sah ich wieder hoch in seine Augen und presste die Lippen aufeinander. Dieser elende Betrüger!
Meine Miene versprach ihm stumm, dass ich ihm den Kopf abreißen würde, denn er hatte mich böse getäuscht und mir vorgegaukelt, er sei verletzt, nur um mit mir zu spielen und mich zu verwirren. Aus Jux und Tollerei hatte er mich zur Idiotin gemacht! Mein Körper fing an, vor Wut zu beben. Doch ich hatte noch einen Trumpf: das Messer! Noch immer war es in meiner Hand. Ich versuchte nicht hinzusehen, aber zu spät.
Er musste meine Gedanken gelesen haben, denn er hauchte voller Ruhe und irgendwie sinnlich »Vergiss es« direkt an meinen Lippen. Dabei stellte ich fest, dass auch in dieser Gestalt sein Atem ganz sicher nicht nach einem Plumpsklo roch. »Du kannst mich nicht töten. Lass es fallen, bevor ich dir wehtun muss«, raunte er mit dieser samtigen Stimme, die mich wünschen ließ, dass ich erfahren könnte, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er nackt auf mir lag und mir ins Ohr flüsterte. Gleichzeitig fiel mir auf, dass er das bereits tat und ich wollte mich für meine Gedanken selbst schlagen!
Ich spürte sein Gewicht auf mir, jedes einzelne Kilo. Anstatt es mir zu erleichtern, presste er mich weiter in den Boden, sodass ich mir wie einem fleischlichen, warmen Käfig vorkam. Er schüchterte mich ein und brachte mich gleichzeitig in Verlegenheit. So nah war ich einer dieser Bestien noch nie gekommen und ganz sicher auch keinem Mann. Ich versuchte, mir meine Scham und meine innerliche Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
Stattdessen hob ich die Hand und drückte ihm die Klinge so schnell ich konnte an die Kehle.
Verdammt, ich wünschte, ich hätte wenigstens eine winzig kleine Sekunde Angst in seinen großen Augen aufblitzen sehen. Aber da war nichts weiter, nur dieses amüsierte Funkeln. Und zu allem Übel gesellte sich jetzt auch noch etwas anderes Fleischliches, Primitives dazu, das aber ganz und gar nichts mit Hunger zu tun hatte.
»Du wirst höchstwahrscheinlich nicht sterben, aber du wirst ganz sicher Schmerzen empfinden. Ist es das wert?«, zischte ich und drückte zur Bekräftigung meiner Worte fester zu. Sein Mundwinkel hob sich. Er war so nah, dass ich jede Feinheit seines Gesichtes erkennen konnte, jeden Makel: das Muttermal auf der rechten Seite der Unterlippe, die Narbe in seiner schwarzen, markant geschnittenen Augenbraue über seinem linken Auge; die etwas krumme Nase, die darauf hindeutete, dass sie mehr als einmal gebrochen gewesen war, die aber dennoch auf ihre eigene Art perfekt schien; die hohen Wangenknochen, die ihn eigentlich hätten feminin machen müssen, aber durch den kantigen Kiefer und das starke Kinn mit dem Grübchen alles andere als weiblich wirkten. Er war die pure Männlichkeit und in seinem Blick lag noch viel mehr als das. Dort fand ich Überheblichkeit, etwas Majestätisches und vor allem Macht. Mit was für einem Gestaltwandler hatte ich mich hier nur angelegt? Das war keiner der gewöhnlichen Sorte, so viel leuchtete mir ein!
Und das Ganze wurde auch noch dick und rot unterstrichen, als er sich zu mir herunterbeugte, sodass sich die Klinge in seine Haut bohrte und ein feines Rinnsal Blut floss. Sanft rieb er seine Nase an mir, dann seine leicht stoppelige Wange, bis seine weichen Lippen an meinem Ohr lagen und ich nicht nur von seinem Körper, sondern auch von seinem Geruch niedergedrückt wurde. Noch immer roch er nicht nach Verwesung, sondern nach einem klaren Bach in einem sauberen, schönen Wald. Er duftete nach Wildnis und purer Reinheit. Ein Duft, der einen automatisch einlullte und an Freiheit erinnerte.
»Ich stehe auf Blut und Schmerzen«, flüsterte er rau. Meine Hand fing an zu zittern, als er seine Kehle noch weiter gegen die Klinge drückte. Der Schnitt wurde immer tiefer und das hier immer verrückter, weil ich ihm plötzlich nicht mehr wehtun wollte.
»Diese Schmerzen werden dir nicht gefallen und jetzt hör auf, mich zu zerquetschen, du Psychokater!«
Jetzt lachte er, laut und melodisch, nicht schmerzverzerrt, und warf dabei den Kopf zurück, sodass ich einen perfekten Ausblick auf den langen Hals, seine blutverschmierte muskulöse Brust und die ansehnlichen breiten Schultern hatte. Ich schluckte angestrengt, denn sein Gelächter nistete sich in meinem angespannten Bauch ein, glitt in warmen verlockenden Wellen durch meinen Körper und entspannte ihn, als würde er mich sanft streicheln.
Er verstummte abrupt und sah mich einige Sekunden lang an.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Okay!«
Was Okay, wollte ich fragen, doch er war schon wieder in Bewegung und ich zwangsläufig mit ihm. Er rollte uns geschickt herum, sodass ich auf seinen nackten Hüften zum Sitzen kam, die Klinge immer noch an seinen Hals gepresst. Leider hatte sie inzwischen jede Gefährlichkeit verloren. Er besaß auch noch die Nerven, die Arme locker hinter dem Kopf zu verschränken und mit einem Grinsen zu mir aufzublicken, das zwei ansehnliche Grübchen in seinen Wangen betonte. Dabei wirkte er absolut unbekümmert. So, als wäre das hier für ihn mal eine nette Abwechslung zu seinem Alltag.
Bis über beide Ohren grinsend, neckisch und auch fordernd lag er nun also unter mir und betrachtete das seltene Menschlein, das auf ihm saß und keine Ahnung hatte, wie es mit der Situation umgehen sollte.
Ich konnte zwischen meinen Beinen fühlen, dass ihm der derzeitige Ausblick gefiel, und prompt stieg verräterische Röte in meine Wangen, wie Lava, die sich ihren Weg aus dem Vulkan bahnt.
Wie er da so im trockenen Laub lag, mit diesem Funkeln in den Augen und dem Lächeln im Gesicht, wollte ich ganz andere Dinge mit ihm tun, als ihn aufzuschlitzen. Dinge, an die ich bis jetzt noch nicht mal mit meinem kleinen Zeh gedacht hatte … Prompt verstärkte sich die Röte, genauso wie sein dämliches Grinsen, als wüsste er nur zu gut, was er mir antat.
Die Klinge befand sich immer noch an Ort und Stelle. Meine Hand fing langsam aber sicher an, sich zu verkrampfen und infolge dessen zu zittern. Dennoch war ich noch nicht bereit, das Einzige, was mir mentale Sicherheit bescherte, aufzugeben. Auch wenn ich wusste, dass der Dolch mir in Wirklichkeit rein gar nichts brachte.
Er ließ sich von dem mittlerweile fast vibrierenden Messer nicht stören, hob vorsichtig die Hand und strich mir doch tatsächlich über die Wange. Dabei fühlte ich, wie er sein Blut in meinem Gesicht verschmierte, und hätte es eigentlich eklig finden müssen … ja, müssen. Doch ich konnte mich nicht überwinden, tatsächlich so zu empfinden. Langsam glitt er mit seinen Fingerspitzen hinab, sodass jetzt vermutlich fünf rote Striemen mein Gesicht zierten, umfasste dann zart meinen Kiefer und strich mit seinem Daumen über meine Unterlippe. Sie erbebte unter seiner Berührung und ich biss schnell darauf. Doch auch davon ließ er sich nicht abhalten, fuhr stattdessen mit seiner Hand einfach in meine Haare. Fühlte sie, knetete sie … Ich hätte fast den Kopf nach hinten gebeugt und aus tiefster Seele geseufzt. Aber nur fast.
»So habe ich mir Menschen nicht vorgestellt«, sinnierte er, und ja, auch ich hatte eine andere Vorstellung von den Monstern gehabt! Ich hatte gedacht, dass sie sich auch in Menschenform wie Tiere benahmen, dass nur das Recht des Stärkeren zählte, dass sie Blut rasend machte und besonders menschliches Fleisch. Dieses hier hingegen schien ganz ruhig und ausgeglichen, bis auf einen leicht verspannten Zug um seine Augen und ein Zucken in seiner Wange, welches vielleicht darauf hindeutete, dass es ihn doch Anstrengung kostete, mich zu berühren, und dabei auch noch Blut zu sehen und zu riechen.
»Woher kommst du?«, erkundigte er sich mit tiefer Stimme. Ich entschied mich, ihm nicht zu antworten. Keine Ahnung, was er mit seiner Frage bezwecken wollte.
Wieder verdrehte er die Augen und ich sah dabei deutlich den Panther in ihm. Und als er sich plötzlich aufrichtete und einen Arm um meine Taille schlang, stieg ein Kichern meine Kehle empor.
Sein hübsches Gesicht, das fein, aber wie gesagt, alles andere als weiblich wirkte, war meinem plötzlich wieder ganz nahe. Es verschlug mir die Sprache. Von unten blickte er mich schmunzelnd durch einen dunklen Fächer Wimpern an, für den so manche Nymphe alles gegeben hätte.
»Du musst keine Angst vor mir haben. Ich werde dich schon nicht fressen.« Er ließ es sexuell klingen. So, als würde es nicht stimmen, was er sagte. Mir wurde untenrum so heiß, dass ich mich am liebsten aus den Kleidern geschält hätte. Mein Atem ging immer schneller, je länger er mir so nahblieb. »Du weckst in mir ganz andere Gelüste.« Schelmisch hielt er mich mit seinem Blick gefangen, vielleicht meinte er, dass sich ihm niemand verwehren konnte. Und ich muss zugeben, in diesem Moment konnte ich das auch nicht. Davon hatte ich schon gehört. Gestaltwandler strahlen eine starke sexuelle Energie aus, die sie benutzen können, um andere Wesen zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. »Es würde dir gefallen. … Versprochen!« Seine Hand rutschte ungeniert an meinem Rücken hinab, bevor er meinen Hintern packte und mich mit dem Unterkörper gegen sich drückte.
Er war hart.
Ein peinlicher keuchender Laut, tief aus meiner Kehle, entschlüpfte meinen Lippen, als er der Bewegung mit seinen Hüften entgegenkam. Schnell krallte ich mich in seine Schultern, um nicht einfach umzukippen. Immer noch mit dem Messer in der Hand, das ich schon fast vergessen hatte.
»Du riechst so … verführerisch …« Seine Nase glitt über mein Schlüsselbein, welches aus dem verrutschten Stoff herausschaute. Dabei konnte ich seine seidigen, raspelkurzen Haare bewundern, und widerstand gerade so dem Drang, über seinen runden Kopf zu streichen und auch ihn zu erkunden. Bei all dieser Nähe schlug mein Herz allerdings bis zum Hals und das Adrenalin rauschte durch meine Blutbahn. Für keine Sekunde hatte ich vergessen, dass er immer noch ein Raubtier war, und dass er mir mit einer winzigen Bewegung die Kehle rausreißen konnte, wenn es ihn übermannte.
Er schien jedoch ganz andere Dinge vorzuhaben und die waren mir genauso wenig geheuer.
»Ich frage mich, wie du schmeckst …« Mit einem Mal fühlte ich etwas Nasses, Heißes, das über mein Schlüsselbein glitt.
Der peinliche keuchende Laut aus den Tiefen meiner Kehle kroch wieder nach oben, worauf ich schnell eine Hand vor den Mund schlug, damit er ihn nicht hörte. Er lachte heiser gegen meine Haut. Sein Lachen machte das alles nicht besser und streichelte wieder mein Inneres mit sanften, gemächlichen Berührungen.
»Ich weiß, dass du erregt bist. Du kannst es nicht vor mir verstecken, also lass es sein und entspann dich.« Verführerisch lächelnd blickte er wieder in mein Gesicht, und ich war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, ihn endlich von mir zu schieben und ihn zu küssen. Schnell schüttelte ich den Kopf, um solche Gedanken zu vertreiben. Er kostete diese Macht über mich aus und war sich vollkommen sicher, dass er das kleine dumme Menschlein in seiner Gewalt hatte. Dass er ein neues Spielzeug gefunden hatte, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Ich sah es in seinem selbstsicheren, überheblichen Blick und erkannte auch, dass er mehr mit mir vorhatte, als hier im Laub zu sitzen und mich mit Worten zu verführen.
Da hatte er sich nur leider die Falsche ausgesucht! Ich musste mich zusammenreißen, musste diesen harten Körper unter mir verdrängen, egal, wie gut es sich auch anfühlte, von ihm gehalten zu werden! Ich war stark! Ich würde sicher keine Sklavin werden, wovon er zweifelsfrei mindestens ein Dutzend besaß!
Ich lächelte. Langsam.
Er runzelte etwas irritiert die Stirn, ließ es aber zu, als ich mit meinen Fingern in seinen Nacken glitt und dort mit den seidig zarten, kurzen Härchen spielte. Dabei löste ich meine Finger natürlich noch immer nicht von meinem Messer. Keine Ahnung, was ich tat, ich machte es einfach, denn ich musste ihn loswerden, bevor er diesen gruseligen erotischen Bann weiter um mich spann und ich komplett willenlos wurde.
»Du bist wirklich sehr hübsch, wenn nicht sogar atemberaubend gut aussehend und deine Stimme … Sie ist wahnsinnig erotisch … Sie bewegt etwas tief in mir …«, flüsterte ich. Er sah aus, als hätte er das schon tausendmal gehört und als könnte er es noch weitere tausend Male hören. Selbstzufriedener, arroganter Arschkater! »Du bist so stark, so männlich, so … mächtig. Als wärst du ein König.« Besagter Arschkater wirkte immer selbstzufriedener und war froh, dass ich das auch endlich zu erkennen schien. Bei jedem neuen Kompliment nickte er zustimmend, was unter anderen Umständen mehr als witzig gewesen wäre.
Langsam beugte ich mich weiter hinab, sodass unsere Gesichter nur noch millimeterweit voneinander entfernt waren. Gott, mir wurde ganz anders … Trotzdem flüsterte ich direkt in seinen Mund. »Du bist einfach gesagt … eine stinkende, seelenlose Bestie und ich werde mich dir niemals hingeben!« Damit stach ich ihm das Messer tief in den Rücken. Vielleicht war das feige, so von hinten, mit Sicherheit alles andere als nett, aber ich musste diese Chance nutzen.
Im nächsten Moment sprang ich von ihm herunter und war froh, dass er durch den Schock seine Umarmung gelockert hatte. Er grölte wütend – menschlich – mit einem Hauch von tierischem Brüllen.
»Ich dachte, du stehst auf Schmerzen?«, rief ich ihm frech zu, lachte sozusagen der Gefahr ins Gesicht –, dann stürzte ich schnell davon.
Im Laufen drehte ich mich erst um, als sein Geschrei verstummte.
Er kniete nackt und muskulös wie eine Statue der perfekten Männlichkeit auf dem Waldboden. Angst einflößend langsam hob er das Gesicht und sah mich an, als wäre er von einem Dämon besessen. Drohend verengte er die Augen zu Schlitzen und zog die Lippen hoch über seine geraden, strahlend weißen Zähne. Sein Knurren konnte ich genauso tief in meinen Bauch fühlen wie sein Lachen zuvor.
Dieser animalische Ton war die einzige Warnung, bevor ich schockiert mit ansehen musste, wie er anfing, sich zu verwandeln … wie sich seine Knochen und Muskeln unter der glatten makellosen Haut verschoben, neu zusammenfügten und förmlich anschwollen.
»Nein!«, schrie ich panisch und rannte noch schneller. Doch ich wusste, nachdem was ich gerade getan hatte, gab es kein Entkommen mehr.
2.
Obwohl ich ganz genau wusste, dass ich keine Chance hatte zu entkommen, rannte ich um mein Leben.
Er war nur ein paar Meter hinter mir gewesen, als er angefangen hatte sich zu transformieren. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die Bestie den Menschen verdrängt hatte. Denn das war das erste Mal, dass ich einer Verwandlung beiwohnte. Diese Frage wurde schon nach ein paar Schritten geklärt, als ein Brüllen meine Eingeweide förmlich erzittern ließ.
Toll! Nun war ich tot. Ich sah über meine Schulter und bemerkte voller Grauen, dass er mir bereits leichtfüßig folgte. Ruhig lief der schwarze Panther hinter mir her und ich wusste, dass er mir auch noch belustigt gewunken hätte, wenn er noch in Menschenform gewesen wäre. Wie robust waren diese Wesen eigentlich? Ich hatte ihm zweimal meinen Dolch in den Körper gerammt und trotzdem waren seine Bewegungen kraftvoll und geschmeidig. Außerdem schien er nicht mal mehr wütend zu sein oder mich zerfleischen zu wollen, sondern tänzelte seelenruhig hinter mir her.
Dennoch versuchte ich, noch mehr aus meinem Körper herauszuholen.
Es machte tatsächlich den Eindruck, als hätte er was ganz anderes im Sinn, als mich nur zu fressen, doch für das würde ich mich ganz sicher nicht hergeben! Ich wollte nichts mit diesen Monstern zu tun haben. Sie waren unberechenbar. Bestien. Menschliche Regeln, die mir mein Opa beigebracht hatte, waren ihnen egal. Sie lebten nach ihren eigenen Gesetzen. Und ich, einer der wenigen Menschen, war nicht bereit, mich diesen zu beugen.
Also rannte ich, bis die Muskeln in meinen Waden brannten und der Schweiß in Strömen über mein Gesicht lief. Das einfache Tuch, welches mich kleidete und mit Blut getränkt war, klebte an mir wie eine zweite Haut.
Keine Ahnung, wie lange ich lief, aber irgendwann lichtete sich der feuchte Nebel immer weiter und die Luft erwärmte sich. Ich näherte mich wohl der Dschungel-Zone. Mein Opa hatte mir erklärt, dass hier, anders als auf der Menschenwelt, keine Jahreszeiten existierten, sondern verschiedene Zonen: In einer herrschte immer Winter, in der nächsten Sommer und so weiter. Es gab entweder Regenwald oder Wüste, eine dunkle und eine helle Zone und natürlich eine lunare sowie eine sonnige Zone. Es existierten unzählige Ebenen auf diesem Planeten, wo die klimatischen Verhältnisse konstant blieben, in denen dafür aber unterschiedliche Wesen lebten und ich kannte noch lange nicht alle. Im Regenwald beispielsweise regierten die Gestaltwandler. Ich betrat also gerade sein Gebiet. Wunderbar, genau das, was ich brauchte!
Überlebenstrick Nummer eins: Wenn der Feind dir auf den Fersen ist, dann verstecke dich einfach auf seinem Territorium … aber nur, wenn du unsagbar dumm bist!
Umzukehren kam jedoch nicht infrage, also blieb mir nur, auf das Glück der Dummen zu hoffen!
Ich vernahm ein verspieltes Knurren zu meiner Linken und blickte durch die Bäume. Ganz leger joggte er parallel zu mir ein paar Baumreihen weiter. Sein muskulöser Körper beugte und streckte sich ohne jegliche Anstrengung, dabei wirbelten die riesigen, schwarzen Pranken wie in Zeitlupe das Laub auf. Er zeigte mir, dass er mich dann in seine Fänge bekommen würde, wenn er das wollte. Denn nun bestimmte er die Regeln. Ich zeigte ihm im Gegenzug den Mittelfinger. Die Geste kannte ich von meinem Opa und sie war anscheinend auch in dieser Welt bekannt. Er strauchelte tatsächlich kurz, näherte sich mir aber weiter.
In meine Oberschenkel gesellte sich ein Ziehen dazu, weil ich nun bergauf rannte. Die kahlen hellen Bäume lichteten sich. Die Blätter, die stets den Boden bedeckten und niemals anfingen zu faulen, wurden weniger. Blanke Erde kam zum Vorschein, bis sie sich langsam in rauen Stein wandelte, der sich schmerzhaft in meinen unbeschuhten Fuß bohrte.
Mit einem Mal verzog sich der Nebel und ich hielt abrupt an, weil ich mich am Abgrund einer Klippe wiederfand.
Vor mir erstreckte sich das dichte, grüne Blätterdach des Regenwaldes. Feuchte, heiße Luft strömte mir ungehindert entgegen und erfasste meine verschwitzten Haare. Übergroße Papageien zogen ihre Bahnen und ein paar Phönixe glitten majestätisch mit ihren Feuerschweifen umher. Unter mir schlängelte sich ein breiter Fluss entlang. Wie aus dem Nichts entsprang aus dem Stein unter mir ein Wasserfall und ergoss sich laut dröhnend und wild rauschend im Gewässer etwas weiter unten.
Keuchend wirbelte ich herum, doch es war zu spät. Der Panther trat bereits mit nach unten gebeugtem Kopf zwischen den Bäumen hervor und taxierte mich. Fluchend wich ich einen Schritt zurück und kam der Kante zu nah. Ein paar Steine lösten sich unter meiner Hacke und rieselten in die tosende Tiefe hinab. Ich konnte gerade noch so mein Gleichgewicht halten.
»Bleib sofort stehen …«, forderte ich atemlos. Natürlich tat er es nicht, sondern senkte den Kopf weiter und kam auf mich zugeschlichen. Sein langer schwarzer Schwanz peitschte zu allen Seiten, die Ohren waren angelegt. Er sah majestätisch, aber vor allem beängstigend aus.
Seine Reichweite war nicht zu unterschätzen, also musste ich schnell handeln. Ich blickte über meine Schulter, hörte ein paar Fabelvögel kreischen und das Wasser unter mir dröhnen, dann schaute ich wieder zurück.
Entweder ich landete bei ihm, als eine menschliche Sklavin, als sein willenloses Spielzeug, oder ich sprang von einer Klippe in ein unbekanntes Gewässer voller tödlicher Gefahren.
Natürlich wählte ich die zweite Möglichkeit, vermutlich, weil ich verrückt und unbeugsam war, oder nichts mehr zu verlieren hatte als mein bloßes Leben. Es war ja nicht so, als ob ich mir noch um irgendjemanden Sorgen machen müsste ... oh Opa, du fehlst mir so sehr ...
Genau in dem Moment, als er sich duckte und von einem Hinterbein auf das andere trat, wirbelte ich herum und sprang kopfüber in die Tiefe.
Ich hoffte, dass der See unter dem Wasserfall tief genug war und ich mir nicht den Schädel aufschlagen würde. Einen Augenblick flog ich mit den Vögeln durch die Luft und sah einem Phönix in sein rotes, ruhiges Auge, dann tauchte ich schon in die eisige Kälte ein. Sie umfing mich mit unerbittlichen Armen und raubte mir den Atem. Das Wasser war so tief, dass ich den Boden nicht sehen konnte, obwohl es rein und klar war.
Durch die Blubberblasen hindurch, die mein Eintauchen verursacht hatten, sah ich grüne schlammige Wesen auf mich zukommen. Wassermänner! Die hatten mir gerade noch gefehlt!
Sie waren klein und an Land absolut ungefährlich, weil sie dort nicht atmen konnten. Im Wasser jedoch waren sie als Kiemenatmer und mit den Schwimmhäuten zwischen ihren Fingern und Zehen sowie ihrem wendigen Körper nicht zu unterschätzen. Ihre Spezialwaffen waren kleine spitze Zähnchen, mit denen sie ALLES bis zur Unkenntlichkeit zerfleischen konnten.
Auch wenn sie nicht sehr groß und einzeln vermutlich gut abzuwehren waren, so traten sie wie viele Fische im Schwarm auf. Sofort kamen sie von allen Seiten auf mich zugeschossen und ich versuchte, nicht panisch zu werden oder gar zu schreien, während ich mich nach oben strampelte. Überlebenstrick Nummer zwei: Unter Wasser zu schreien ist keine gute Idee.
während ich mich an Oberfläche kämpfte, verlor ich auch noch meinen zweiten Schuh. Langsam ging mir die Luft aus und ich war froh, als ich endlich laut japsend Sauerstoff in meine Lungen pumpen konnte. Die Wellen unter dem Wasserfall waren stark und nahmen mir die Orientierung. Das Rauschen dröhnte in meinen Ohren und die Nässe peitschte mir hart ins Gesicht. Ich fühlte, wie mich eins dieser Viecher ins Bein biss und trat nach ihm. Dann schwamm ich planlos drauflos. Das tosende Wasser um mich herum drohte mich jeden Moment zu verschlingen, also entschied ich mich schließlich, freiwillig zu tauchen. Dort unten war es wenigstens ruhig und ich konnte ausmachen, in welcher Richtung sich das Ufer befand. Außerdem würde ich so die Winzlinge sehen, die mich bei lebendigem Leib mit ihren kleinen Zähnchen anknabbern wollten.
Einen Moment bereute ich es, als ich untertauchte, denn jetzt erkannte ich, wie viele Wassermänner wirklich aus der Tiefe kamen und mich nackt und aus hungrigen Augen betrachteten. Sie waren alle männlich. Es war lächerlich, was da zwischen ihren Beinen baumelte und ich benahm mich lächerlich, weil ich überhaupt hinsah. Fast hätte ich gelacht. Aber unter Wasser zu lachen ist genauso eine schlechte Idee wie zu schreien, so nebenbei bemerkt.
Panisch ließ ich meinen Blick umherschweifen und erspähte zu meiner linken eine Steinwand – das Ufer!
Die Wassermänner mit den kleinen Dingern kamen immer näher, also beeilte ich mich und schwamm so schnell wie noch nie in meinem Leben. Sie kratzten über meine Beine und versuchten, sich an meinem Körper hochzuziehen. Ich strampelte etwas, doch konzentrierte mich in erster Linie aufs Schwimmen. Der größte Fehler, den ich jetzt machen könnte, wäre mich ihnen zu stellen. Sie würden alle über mich herfallen und mich ins tiefe Wasser hinabzerren.
Das Ufer kam in meine Nähe. Fast schluchzend berührte ich den rauen Stein mit bebenden Fingerspitzen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, sobald ich Frischluft genießen konnte, und stemmte meine Hände auf einen der flachen, glitschigen Steine, die sich dort angesammelt hatten. Grunzend hievte ich mich nach oben, während an meinen Beinen schon fünf Wassermänner hingen und mich versuchten, wieder in die Tiefe zu ziehen. Doch sie mussten ihre Bemühungen unterbrechen, als ich mich komplett in Sicherheit schob. Wütend ließen ein paar von mir ab und den penetranten Rest schüttelte ich wie ein paar überreife Pflaumen von meinen Beinen ins kalte Nass, wo sie völlig außer sich schrien und tobten. Sie drohten mir mit ihren kleinen Fäusten, dann verschwanden sie … Völlig geschafft drehte ich mich auf den Rücken und verschnaufte atemlos. Das war ja gerade noch mal gut gegangen …
Die Sonne strahlte auf mein Gesicht herab und trocknete es. Für einen Moment schloss ich die Augen und entspannte mich. Im nächsten umfing mich heftiger Gestank. So, als würde etwas in der Sonne verwesen, und das schon seit Tagen. Ich wusste, um was es sich handelte, und rappelte mich schnell auf dem glitschigen Stein auf, um von hier wegzukommen. Keinesfalls wollte ich mit dem Mapinguari Bekanntschaft schließen. Es war ein riesiges Wesen mit braunem zotteligem Fell, das ein wenig aussah wie ein Mensch, dafür aber gute zwei Meter maß und sein Kopf nur von einem riesigen braunen Auge eingenommen wurde. Sein Maul jedoch trug er am haarigen Bauch spazieren. Damit stürzte er sich liebend gern auf seine Opfer, wenn sie nicht so schlau waren und die Flucht ergriffen, sobald sein fauliger Geruch die Lungen füllte.
Schnell stolperte ich tropfend drauflos – direkt in den dichten Dschungel. Es war gefährlich hier herumzulaufen. Fleischfressende Pflanzen, so groß wie ein Baum, waren das geringste Übel. Ich musste dieses Gebiet schnell verlassen, ansonsten währte mein Leben nicht mehr lange. Dryaden – Nymphen, die mit ihren Bäumen auf Leben und Tod verbunden waren – winkten mir freundlich zu, aber ich ignorierte sie, denn ich wollte hier weg, und wenn sie einen einmal in ein Gespräch verwickelten, konnte dies Tage dauern. Über mir flog ein Rock und verdeckte alles mit seinem riesigen großen Schatten. Es war ein Adler von der Größe eines Elefanten und sein gelbliches Gefieder strahlte in der Sonne. Ich liebte diese Tiere. Aber in diesem Moment hatte ich für all diese Pracht keinen Kopf, nur eines lag mir im Sinn und das war Überleben!
Am Rande einer Lichtung suchte ich mir einen Ort, um wenigstens kurz zu verschnaufen, denn ich war so erschöpft, dass mich meine Beine keinen Meter mehr tragen wollten. An einem großen Baum, dessen Wurzeln den Boden aufgerissen hatten, lehnte ich mich an. Aber davor testete ich erst, ob dieser nicht zum Leben erwachen und mich mit seinen Ästen zu Brei schlagen würde. Nein, das war kein lebender Baum. Entkräftet ließ ich mich an ihm hinabgleiten, bis ich saß, stützte meine Arme auf meine Knie und meinen Kopf in meine Hände. Erst jetzt merkte ich, dass ich den Dolch immer noch umklammert hielt. Ich steckte ihn in die Scheide, die an meinem selbst gebastelten Gürtel hing.
Noch einmal war ich davongekommen, aber dafür steckte ich jetzt im Dschungel fest. Da war mir der Nebelwald lieber gewesen. Dort war es nicht so verworren, so bunt und so voll mit Gefahren. Der Nebelwald lag jenseits der Klippe. Ich müsste wieder hochklettern. Aber vielleicht fand ich auch einen netten Riesen, der mich hochhob? Oder ich würde weiterziehen und mich in die Wüstenebene begeben. Allerdings gab es dort auch sehr unfreundliche Geschöpfe. Ich könnte auch weiter nach Norden gehen, dorthin wo sich die Hochebenen und Wälder befanden? Mein Opa und ich hatten dort eine Zeit lang gelebt. Da kannte ich mich gut aus und wir hatten einen Bekannten – den Pan.
Was würde Opa jetzt wohl tun?
Ich erinnerte mich zurück: an sein rostbraunes, runzliges Gesicht mit dem weißen Ziegenbart und an seine immer lächelnden, braungrünen Augen; an sein Selbstbewusstsein und seinen Glauben, den er trotz dieser verrückten, feindlichen Welt, in der wir lebten, nie verloren hatte. Noch immer konnte ich ihn vor mir sehen, in seinen blauen, komischen Hosen, die ihm bis zur Brust reichten und an Trägern von seinen dünnen Schultern hingen. Er wollte mir nie erzählen, woher er die Hosen hatte, aber Tatsache war, dass sie weit waren. Und dass er alles, was er so gebrauchen konnte, in eine Tasche am Bauch steckte. Außerdem hatte er aus einem Stück Stoff eine Art Rucksack gefertigt, in dem wir unsere Besitztümer mit uns herumschleppten. Es war nicht viel: eine fransige Decke; ein paar verschieden große Messer; eine Steinschleuder, die aber tödlich sein konnte, wenn man das richtige Geschoss benutzte; ein Zauberbuch, das er aber nie vor meinen Augen angewendet hatte; eine Plane aus wasserdichtem blauem Stoff und ein paar feste Seile und Schnüre. Jetzt war alles verloren. Ich hatte nur das, was ich am Körper trug.
Er war ein herzensguter und netter Mensch gewesen und hatte mir gezeigt, was es hieß zu den Guten zu gehören, Mitgefühl und ein Gewissen zu besitzen. Damit hatte er uns oft in Schwierigkeiten gebracht, weil er immer den Helden spielen musste. Wegen seiner hilfsbereiten Ader hatten wir schon so einige Male in Lebensgefahr geschwebt. Ich hatte jedoch immer alles mitgemacht, weil er stets gesagt hatte: Wenn eine Kreatur in Not ist, ist Wegsehen das Schlimmste, was du tun kannst. Du könntest ihre Hilfe irgendwann gebrauchen und wirst auch froh sein, wenn sie nicht wegsieht. Außerdem sagte er auch: Pinkel niemals in den Brunnen, der deinen Weg kreuzt. Du weißt nicht, ob du sein Wasser irgendwann trinken musst. Nach der Devise lebten wir. So meinte Opa, sollten Menschen sein. Und wir fühlten uns gut dabei, das Menschliche zu vertreten. So konnten wir jeden Abend mit gutem Gewissen schlafengehen, bis … bis sie ihn zerfleischt hatten. Seitdem kam ich gar nicht mehr zur Ruhe. Das Knacken seiner brechenden Knochen und das Reißen seines Fleisches verfolgten mich in jeder Sekunde. Das Knurren der Wölfe ließ mich erschauern, allein, wenn ich daran dachte.
Besagtes Knurren riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte es schon einmal gehört und danach immer und immer wieder … Deswegen zog sich jetzt alles in mir zusammen, als ich mich umblickte. Fast hoffte ich, es würde der Panther sein, aber er war es nicht. Stattdessen näherte sich mir ein schwarzer Wolf. Obwohl ich sonst ein Spitzengehör hatte, war es ihm gelungen, sich unbemerkt anzuschleichen.
Meine Augen wurden groß, als ich der Bestie in die stechend gelben Schlitze blickte. Sofort wusste ich, welcher Wolf mir gerade seine Aufwartung machte. Es war der Anführer des Rudels, welches meinen Opa zerfleischt hatte. Dieser hier hatte ihm, vor dem Festmahl, gnädigerweise die Kehle durchgebissen. Er war es auch gewesen, der mir noch mal in die Augen gesehen hatte, bevor er ein Stück aus dem Bauch meines Opas gerissen hatte. Es war eindeutig, dass dieses Rudel aus Gestaltwandlern bestand und somit eine menschliche Seite besaß, denn kein Tier war jemals sadistisch.
Seine Lefzen waren zurückgezogen und er präsentierte mir elfenbeinfarbene riesige Reißzähne, die er jeden Moment in mich bohren würde. Sein Fell war lang und tiefschwarz, die Pfoten so groß wie mein Gesicht. Er musste sich etwas bücken, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
Ich sah in diese kalten Augen und konnte den Menschen dahinter ausmachen. Der Ausdruck dieser dunklen Tiefen war nicht neckisch, nicht freundlich, nicht mal ausgehungert, sondern einfach nur gemein. So fies kann dich ein Tier nicht ansehen. Das bringt nur ein Mensch zustande.
Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ich bereute es, den Dolch weggesteckt zu haben. Ich bereute vieles, aber am meisten bereute ich, nicht oben bei dem Panther geblieben zu sein, bei dem Mann, der im Laub unter mir gelegen und mich offen und verspielt angelächelt hatte, während sein Arm mich hielt … und mir komischerweise Schutz bot.
Der Wolf schnaufte und schaute weg, nach links. Seinem Blick folgend bemerkte ich, dass neben ihm noch einer aus dem Gebüsch trat. Er war weiß wie Schnee, nur seine Nase war schwarz. Die Augen hellblau wie die Gletscher der Eisebene. Er stupste den schwarzen Wolf ein wenig mit dem Kopf in die Seite, als wolle er ihn von mir wegschieben, ohne ihn zu verärgern, doch der knurrte und schnappte gefährlich nach dem Weißen. Irritiert betrachtete ich die beiden. Der mit den Eisaugen war mir völlig unbekannt. Er war auch nicht bei dem Überfall auf mich und meinen Opa dabei gewesen. Das wäre mir sicherlich aufgefallen. Insgesamt sahen sie sich bis auf die Fell- und Augenfarbe unglaublich ähnlich, waren aber gleichzeitig so verschieden wie Tag und Nacht. Wo der schwarze Wolf schon eine gefährliche Ausstrahlung in sich trug, schien der weiße beinahe freundlich. Er wirkte sogar ein wenig größer und stattlicher als sein Artgenosse, war aber dennoch eindeutig nicht der Alpha. Meine irrsinnigen Vergleiche wurden unterbrochen, als mich die schwarze Bestie wieder ins Visier nahm.
Ich musste etwas tun, wenigstens Zeit schinden.
»Ähm, könnte ich noch etwas sagen, bevor du mich auffrisst?« Ich wählte die Höflichkeit, denn hinter diesen Augen befand sich ein Mensch und er verstand meine Worte zu gut. Er wartete, rührte sich nicht. Also sprach ich weiter: »Ich habe gestern aus Versehen einen giftigen Pilz gegessen. Mir ist immer noch ganz schlecht davon, außerdem hab ich Halluzinationen und ich glaube, dir würde es auch nicht gut bekommen.« Ich hielt mir den Bauch und wusste, dass mein Schauspiel miserabel anmutete, doch ich folgte, wie immer der Devise »Überleben ist das Wichtigste« und so versuchte ich es wenigstens! Vorsichtig linste ich erneut hoch.
Der weiße Wolf schnaubte abfällig, fast schon ironisch. Der andere ließ sich nicht beeindrucken und strich sich als Antwort mit rosa fleischiger Zunge betont langsam über die Reißzähne. Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten.
Ich überlegte, ob ich es schaffen würde, das Messer zu ziehen, bevor er mir an die Kehle ging. Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit, denn er war einfach zu nah!
»Dieser Pilz ist wirklich nicht zu unterschätzen. Mein Fleisch ist sicher ganz ekelhaft und zäh. Ich fühle mich schon ganz … faulig«, merkte ich noch an, doch er reagierte nicht. Wie lange würde er es denn noch hinauszögern? Genügte es ihm nicht, dass der Schweiß, der soeben noch vom Wasser abgewaschen worden war, jetzt wieder an Stirn und Hals hinabströmte, und dass mein Herz versuchte, mich von innen heraus zu erschlagen? Konnte er nicht einfach nur mit seinem Mittagsmahl beginnen und dem endlich ein Ende bereiten?
Bei diesem Gedanken wurde es mir endgültig klar: Ich empfand keine Angst um mein Leben. Obwohl ich geradewegs in die Augen der Bestie blickte. Stattdessen wehrte ich mich nur aus Prinzip und versuchte deshalb, den Wolf vor mir in Grund und Boden zu quatschen, um nicht kampflos aufzugeben. Hieß das etwa, ich hatte mich mit meinem Tod abgefunden, nachdem mein Opa gegangen war? Hieß das, ich hatte die Hoffnung verloren? Innerlich zuckte ich vor diesem Gedanken zurück. Denn das würde bedeuten, ich hätte mich aufgegeben ...
Der Wolf machte sich bereit … Er hob seine Lefzen, präsentierte seine Zähne und knurrte so stark, dass die Erde unter mir vibrierte. Jetzt würde er angreifen. Ich erkannte es an dem leichten Anspannen seines Körpers.
Doch plötzlich durchschnitt ein anderer grollender Laut die bedrohliche Situation – noch tiefer und eindringlicher als der erste. Verblüfft sah ich zu dem weißen Wolf, ebenso wie der Schwarze. Vermutlich war er der Meinung, er hätte sich verhört. Doch der mit den Eisaugen knurrte tatsächlich seinen Alpha an und präsentierte genauso imposante Beißerchen, zwischen die ich nicht geraten wollte. Der Ranghöhere machte einen drohenden Schritt auf den Weißen zu. Dieser wich zurück und hörte sofort auf, als erneut nach ihm geschnappt wurde. Es war schrecklich! Sie waren mir so nah, dass sie mich im Falle eines Kampfes verletzen würden. Der schwarze Wolf ging weiterhin demonstrativ auf den weißen zu, woraufhin dieser sich schließlich mit eingezogenem Schwanz auf den Rücken legte und als Unterwürfigkeitsgeste seinen empfindlichen Bauch präsentierte. Hä? Ich verstand nun gar nichts mehr!
Sein Artgenosse schien damit wohl zufrieden zu sein und wandte sich etwas abgelenkt mir zu. Gerade spannte er sich wieder an, da grollte es erneut!
Wie sahen beide zu dem Blauauge, ich mit gerunzelter Stirn, er eindeutig irritiert. Der Weiße hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und drohte dem Schwarzen wieder. Dieses Mal konnte ich wirklich die Verwirrung und auch den Zorn über die Herausforderung in den gelben Augen erkennen, als er auf den Weißen zumarschierte, der aber sofort wieder nachgab und sich gehorsam auf den Rücken legte.
Ich fragte mich, was er mit dieser Show bezweckte? Es wirkte, als würde er versuchen Zeit zu schinden. Das war natürlich absolut abwegig, denn wieso sollte er mir helfen wollen, wo er doch garantiert genauso scharf auf mich war wie jeder andere fleischfressende Gestaltwandler?
Der Gelbäugige wandte sich erneut mir zu. Mir war klar, dass er sich jetzt beeilen würde, doch er kam nicht weit, weil plötzlich eine dröhnende weibliche Stimme ertönte.
»Halt!«, verlangte sie und all unsere Blicke flogen nach links. Dorthin, wo etwa zehn Amazonen mit gezogenen Waffen standen und auf die Wölfe zielten. »Verschwindet!«, forderte die vermeintliche Anführerin. Sie hatte schwarze lockige Haare, eine breite Stirn, noch breitere Wangenknochen und tief liegende, dunkelbraune Augen. Ihr Körper war komplett unbekleidet, was auch sonst?, sodass ihre Muskelberge deutlich wurden. Selbst ihre braun gebrannten Arme und Schultern waren so kräftig, dass sie drohten zu platzen. Alles in allem erinnerte sie eher an einen Mann als eine Frau. Ohne mich weiter zu beachten, zielte sie mit der Armbrust auf den Wolf direkt vor mir.
Der Wolf knurrte lauter und duckte sich, doch er trat einen unwilligen Schritt von mir zurück, dann noch einen, und noch einen ... Mir wurde leicht ums Herz, als er sich von mir abwandte und, ohne die Amazonen aus den Augen zu lassen, im Gebüsch verschwand. Der andere folgte ihm beschwingt, doch bevor er in das Dickicht sprang, drehte er sich noch einmal zu mir um und zog die Lefzen hoch. Ich wusste, dass er mich nicht anknurrte, denn in seinen unglaublich hellen Augen konnte ich ein schelmisches Grinsen erkennen.
Meine Lippen offenbarten automatisch ein schüchternes Lächeln, bis mir aufging, was ich da gerade tat! Ich grinste einen Gestaltwandler an! Schnell wischte ich die Sympathiebekundung von meinem Gesicht und blickte zu meinen Retterinnen, die den Wölfen streng hinterhersahen. Als die Tiere verschwunden waren, kamen die Amazonen auf mich zu und stellten sich der Reihe nach vor mir auf.
Ich musste meine Augen mit der Hand schützen, weil die Sonnen mich blendeten. Die Mannsweiber waren wirklich sehr groß, aber nicht so wie Riesen. Sie wirkten nicht unfreundlich, aber doch etwas misstrauisch. Von allen Seiten wurde ich kommentarlos beäugt ... Schließlich streckte eine den Fuß nach mir aus und tippte mich zögernd mit den Zehen an, als wäre ich so fremdartig, dass sie erst mal testen mussten, ob ich beißen oder sie jeden Moment anspringen könnte.
Ich wollte hier nicht länger am Boden rumsitzen, besonders weil sie nackt waren und mir der Ausblick nicht gefiel, also rappelte ich mich verlegen auf.
»Hallo!« Sie antworteten nicht. Schüchtern winkte ich ihnen zu. »Ich bin Seraphina«, ergänzte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Außer vielleicht: »Danke, dass ihr mich gerettet habt!«
»Was bist du und was ist deine wahre Gestalt?«, fragte schließlich die Schwarzhaarige. Sie hatte einen Damenbart.
»Ein Mensch«, entgegnete ich leise und endlich regten sich ihre Gesichter. Verwundert sahen sie sich gegenseitig an.
»Menschen gibt es nicht«, meinte eine Blonde, die hinter der Schwarzhaarigen stand und ihre Hand hielt. »Das kann nicht sein, zeig dich uns«, nuschelte eine Braunhaarige.
»Ich bin hier und ich bin ein Mensch. Es ist eine sehr lange Geschichte.« Müde zuckte ich die Schultern und kam mir, im Gegensatz zu ihnen, winzig vor.
»Was tust du hier?«, fragte die mit dem Bärtchen. Anscheinend hatte sie meine Aussage akzeptiert. Vielleicht konnte sie die Wahrheit in meinen Augen sehen. Lügen war noch nie meine Stärke gewesen.
»Ich will in die Waldebene zum Pan«, murmelte ich leise.
»Dafür musst du durch den ewigen Sand«, zwitscherte die Blonde. Ihre Stimme war ein wenig heller als die der anderen und ihr Haar hing in zwei langen geflochtenen Zöpfen über ihre riesigen Brüste, die ich zwanghaft versuchte nicht anzublicken.
»Ich weiß.«
»Bist du dort schon einmal gewesen?«, dröhnte die Schwarzhaarige.
»Schon öfter.« Ich wusste, dass die Wüste sehr gefährlich war, doch ich hatte bis jetzt jedes Mal überlebt.
»Was willst du beim Pan?«, fragte sie, unbeeindruckt davon, dass ich noch lebte.
»Ich möchte ihn um Hilfe bitten. Er ist mein Freund.« Mein Einziger.
»Im Reich des Waldes gehen in letzter Zeit schlimme Dinge vor sich. Du solltest da nicht hingehen.«
Aber ich musste dorthin. Der Pan war der Einzige, dem ich in dieser verworrenen Welt vertraute, weil er ein alter Bekannter meines Opas war und ich ihn von Kindesbeinen an kannte.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss dorthin. Egal, wie gefährlich es dort sein mag.« Ich knetete meine Hände. Was sollte ich sagen? Mein Opa ist gestorben und ich finde keinen anderen Ausweg? Ich will nicht allein bleiben? Bitte helft mir …
Sie mussten etwas von meiner Verzweiflung in meinen Augen gesehen haben, denn schließlich meinten sie: »Dann bringen wir dich bis an die Grenze des Dschungels, von da an musst du dich allein durchschlagen.« Was mich überraschte! Damit hatte ich nie und nimmer gerechnet! Das zeigte wohl auch mein Gesicht, denn plötzlich lächelten sie alle nachsichtig.
»Ich danke euch«, stammelte ich verwirrt, während sie sich schon umdrehten und losmarschierten. Ich musste fast rennen, um mit ihnen Schritt zu halten. »Aber wieso … tut ihr das?«, fragte ich die Blonde, die mich verschwörerisch angrinste. »Was?«
»Na, mir helfen?«
»Weil du wie wir eine Frau bist.« Sie boxte mir dabei gespielt gegen mein Kinn, wodurch mein Kopf fast abflog. Aha, na gut, wieso auch immer. Schmollend rieb ich mir das geschändete Körperteil und versuchte sie nicht vorwurfsvoll anzublicken. Von da an folgte ich ihnen stumm, was anstrengend war, denn sie hatten wirklich ein unglaubliches Tempo drauf. Zwar boten sie mir an, mich zu tragen, aber ich lehnte dankend ab. Dabei wäre ich ihren riesigen Brüsten viel zu nahe gekommen.
Es dauerte zwei Tage, bis wir den Rand des Dschungels erreichten. Keiner störte uns oder griff uns gar an, und ich verstand es, als ich die vielen Dolche, Messer und andere Waffen bemerkte, die sie sich mit Lederriemen um den Körper gewickelt hatten. Ich hätte mich auch nicht mit ihnen angelegt. Mit einer allein schon, aber nicht mit zehn beziehungsweise zwanzig!
Zum Abschied wollten sie mich zum Glück nicht umarmen. Mein Gesicht befand sich genau in Brusthöhe und ich war mir sicher zu ersticken, wenn sie mich freundschaftlich drücken würden. Sie sagten nur: »Pass auf dich auf, kleine Menschenfrau.« Das » ›klein‹« hätten sie sich sparen können, denn das war ich nicht. Dann drehten sie sich um und verschwanden geräuschlos im Dschungel.
Auch gut!
***
Nun befand ich mich also hier an der Grenze zur Sandebene. Die Luft vor mir flimmerte, als wäre sie verzaubert oder elektrisiert. Riesige, kunstvoll geschwungene Wüstenbänke erstreckten sich am Horizont. Unberührte Erde. Dürre ausgetrocknete Bäumchen stachen aus dem kräftig orangefarbenen Sand hervor, wie Knochen aus einem Grab. Die zwei roten Sonnen waren gerade aufgegangen. Eine stand schon höher am grellblauen Himmel als die andere, sodass es aussah, als würden sie ein Wettrennen veranstalten. Sie brannten mir schon jetzt heftig auf den Kopf und ich hatte nicht mal ein Tuch dabei, das mich vor der Hitze schützte, oder ein Band, mit dem ich meine wirren dreckig braunen Locken hochbinden konnte. Meine Wasserflasche, die auch an meinem Gürtel hing, hatte ich aufgefüllt. Sie würde aber für den gesamten Marsch nicht reichen. Ich musste auf jeden Fall eine Oase aufsuchen.
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte, weg von dem kühlen Holz und den winzigen grünen Pflanzen direkt auf den heißen Sand, der mir die Fußsohlen verbrannte. Mit zusammengebissenen Zähnen ging ich jedoch weiter, denn an die Wärme musste ich mich wohl oder übel gewöhnen. Meine Schuhe hätten einiges erleichtert, doch sie waren weg und ich würde sie nicht wiederbekommen.
Diesen Teil meiner Reise musste ich schnell und ohne zurückzublicken hinter mich bringen, denn in der Wüste lebten einige unliebsame Bewohner, zum Beispiel die Bilokos: bösartige Zwerge, die auf Bäumen hausten und nur darauf warteten, dass ein Ahnungsloser vorbeiging, um ihn nach oben zu ziehen und mit ihren riesigen Mäulern in einem Stück zu verschlingen. Ihre gesamten knochigen Körper waren mit Gras überwuchert, weswegen man sie in den Baumwipfeln der Oasen nicht erkennen konnte. Deshalb würde ich von ihnen Abstand halten, egal wie Schatten spendend sie auch wirkten.
Während ich also durch die Hitze marschierte, dachte ich an all die Wesen, die mir begegnet waren, seitdem Opa weg war. Zum Beispiel an den Panther – bei ihm strandeten meine Gedanken am häufigsten … Wieso hatte er mich nicht gefressen oder angegriffen, sondern mich nur versucht zu verführen? Ich erinnerte mich an seinen Daumen, mit dem er über meine Unterlippe gestrichen hatte, und erwischte mich dabei, wie ich mit meiner Zunge imitierend über das trockene Fleisch fuhr. Schnell schüttelte ich den Kopf, um die orangeglühenden Augen zu verdrängen.
Stattdessen ließ ich meine Gedanken zu dem weißen Wolf schweifen. Er hatte seinen Anführer provoziert und ihn erfolgreich davon abgehalten, mich zu fressen, bis die Amazonen gekommen waren. Aber wieso? Als ich an ihn und seine intelligenten eisblauen Augen dachte und wie er mir noch mal zugegrinst hatte, bevor er im Wald verschwunden war, ertappte ich mich erneut dabei, wie ich lächelte.
Was war nur los mit mir? Fand ich langsam Gefallen an den Monstern? Nein! Niemals!
Mit diesen Bestien wollte ich mich nicht auseinandersetzen, nicht einmal mental, also verdrängte ich die irritierenden Bilder und rief mir eine Erinnerung ins Gedächtnis, die sehr schmerzhaft war, doch ich wollte ihn um keinen Preis vergessen.
Opa.
Er hatte mir immer viel über die Menschen erzählt, damit ich in dieser verrückten Welt den Bezug nicht verlor. Es war fast, als würde er versuchen, mich mit seinen Geschichten auf etwas vorzubereiten, aber keiner, außer ihm, wusste worauf. Er verriet mir, dass die Homo sapiens Wesen waren, die sich von ihren Unsicherheiten leiten und blenden ließen, weshalb er mich darauf trimmte, mich nicht von meinen Ängsten und Befürchtungen lenken zu lassen. Er verkündete immer: Angst ist nur da, um dich zu lähmen und dich zum Aufgeben zu zwingen. Laufe vor ihr davon und sie wird dich verfolgen. Laufe ihr entgegen und sie wird die Flucht ergreifen. Ich versuchte nach seinen Weisheiten zu leben, aber das war meistens leichter gesagt als getan. Er schien niemals Furcht gehabt zu haben, nicht einmal, als die Wölfe ihn umzingelt hatten. Und das war ihnen nur deswegen gelungen, weil er ihre volle Aufmerksamkeit auf sich und von mir weggelenkt hatte, indem er sich in den Arm geschnitten hatte, um sie das frische Blut wittern zu lassen.
Seine letzten Worte an mich waren: Schau niemals zurück, sondern immer nach vorne! Nur dort können neue Fallen aber auch das Glück lauern. Diesen Rat konnte ich ausnahmsweise nicht befolgen. Er war schließlich der Einzige in dieser Welt gewesen, der mich beschützt und mich geprägt hatte. Auch wenn ich wieder weinte, verlor ich mich weiter in der Vergangenheit.
Ich fragte mich, wieso er mir nie etwas von meinen Eltern und von meiner Herkunft erzählt hatte. Es musste doch einen Grund geben, aus dem wir beide die einzigen Menschen in dieser Welt waren. Irgendwo musste doch dieser Ort existieren, aus dem wir stammten! Der unser Zuhause war! Ich hätte gerne gewusst, wo meine Eltern waren, um sie selber zu fragen, warum ich ohne sie zurechtkommen musste, doch mein Opa sprach nicht über sie. Sie gehörten eben zur Vergangenheit …
Zu oft ertappte ich ihn allerdings dabei, wie er mich mit Zuneigung und voller Erinnerungen im Blick betrachtete. Ich wusste, er dachte an seine Tochter – meine Mutter. So viel konnte ich ihm entlocken. Er sagte, ich habe genauso strahlende, wissende Augen wie sie, auch wenn meine etwas schlammiger grün waren als ihre. Ja, so war er, niemals nur aus Höflichkeit nett, sondern immer geradeheraus. Ich denke, im Alter von sechsundachtzig Jahren kann man es sich schon mal leisten, jedem die Meinung ins Gesicht zu sagen und auch mal auszuteilen. Man hat ja auch lang genug eingesteckt.
Trotzdem wünschte ich mir, er hätte länger gelebt. Dann hätte ich mich jetzt nicht so schrecklich verlassen und einsam gefühlt.
Ich setzte meinen Weg weiter heulend durch den heißen Sand fort, unter der noch heißeren Sonne, und schaute nicht nach links und nach rechts, als ich plötzlich etwas spürte … Das geschah gelegentlich und ließ sich wohl mit Ahnungen vergleichen ... Also blickte ich auf und wischte mir schnell die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Im Gehen drehte ich mich um und blieb schockiert stehen, denn mir folgte der weiße Wolf!
Seine Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul und er grinste mich eindeutig wieder an. Murrend scannte ich die Gegend nach den anderen Wölfen ab, doch es war nichts weiter zu sehen als Sand, Sand und noch mal Sand. Naja, noch ein paar verdurstende Bäumchen und die glühenden Sonnen. Um genau zu sein.
»Was willst du von mir?«, rief ich ihm zu. Er setzte sich einfach nur hin, ganz gemütlich, so als würde ich mich normal mit ihm unterhalten und nicht gleich einen cholerischen Anfall kriegen.
Woraufhin ich den Kopf schüttelte. Wenn ich daran dachte, dass er meine Tränen mitbekommen haben musste, wurde mir ganz anders. »Verfolgst du mich etwa?« Er legte den Kopf leicht schief. So auf die Art: vielleicht, vielleicht auch nicht … Arschwolf!
Ich verengte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. »Hör auf, mir hinterherzulaufen! Ich komme super allein zurecht! Wenn ich jetzt weitergehe, will ich, dass du sitzenbleibst. Ich kann nicht durch die Wüste spazieren, wenn ich von einer Bestie verfolgt werde, die mir jeden Moment in den Rücken springt.«
Er schnaubte, blieb aber sitzen. »Jaaaa, du hast schon richtig verstanden!«, rief ich. »Ihr seid alle gleich. Alles fleischfressende Monster!« Nach diesen Worten drehte ich mich um und marschierte weiter.
Natürlich konnte ich ihn nicht komplett ignorieren und blickte über meine Schulter, in der Hoffnung, dass er entweder verschwunden war oder dort noch saß. Nur leider hatte er mir offenbar nicht zugehört, denn er trottete, als wäre es völlig normal, hinter mir her. Ich ballte die Hände zu Fäusten, ging aber weiter, während ich zurückschrie:
»Geh nach Hause und jag ein paar Unschuldige!« Er blieb nicht stehen, sondern grinste nur schon wieder auf diese dämliche Wolfsart. »Kannst du mich nicht verstehen, oder willst du mich nicht verstehen?« Mit einem Ruck wirbelte ich herum, beugte mich hinab und nahm eine Handvoll Sand, den ich nach ihm schmiss! Doch er war viel zu weit weg, als dass ihn auch nur ein Körnchen berührt hätte. »Hör auf, mir hinterherzulaufen!«, brüllte ich nun durch die halbe Wüste. »Ich brauche kein Kindermädchen!« Wütend drehte ich mich um und stapfte weiter, während ich murmelte. »Ich brauche niemanden!«, außer meinen Opa ...
Ab da befolgte ich den Rat meines Opas und schaute nicht mehr zurück, doch ich war mir sicher, dass er mir weiter auf den Fersen war. Gut, wenn er so viel Zeit hatte, mir nachzulaufen, dann sollte er das tun. Kurioserweise hatte ich keine Angst vor ihm. Ich war mich sicher, dass er mich nicht zerfleischen wollte, denn er hätte es ansonsten schon längst getan. Nur eins wusste ich, von meinem Wasser würde ich ihm nichts abgeben, auch wenn die Sonnen ihm den Pelz verbrannten. Ab da an versuchte ich ihn auszublenden, zumal meine Sinne bei ihm ohnehin nicht Alarm schlugen, und ließ den Wolf einfach Wolf sein. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, nicht mehr zu weinen. Das ist gar nicht so leicht, wenn man sich einsam und verlassen fühlt.
Als Mädchen, allein in dieser Welt, ohne jegliche Hilfe, würde man sich schon gerne tief im Sand eingraben und sich eine Runde selbst bemitleiden, oder am besten da unten bleiben und nie wieder hochkommen. Das wäre auch eine Möglichkeit.
Stattdessen marschierte ich verbissen weiter, einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen.
»Es existierte einmal eine wundersame Welt voller zweibeiniger Geschöpfe. Milliarden von ihnen hausten auf dem Planeten namens Erde, welcher hauptsächlich aus Wasser, aber teilweise auch aus Land bestand. Dort lebten sie zumeist in Gemeinschaften, da sie nicht allein sein wollten, denn die Einsamkeit zerstörte ihre Seelen.
Sie trafen sich entweder in sogenannten Cafès, wo sie ein arabisches Heißgetränk nach dem anderen schlürften, oder in riesigen Sälen, wo man auf großen Leinwänden Geschichten von Artgenossen mitverfolgte, um den eigenen Alltag für ein oder zwei Stunden hinter sich zu lassen. Diese Geschöpfe nannte man Menschen. Sie gingen diversen Tätigkeiten nach oder besuchten seltsame Einrichtungen, beispielsweise einen Friseur, um ihre Schönheit hervorzuheben, oder Supermärkte, um ihre Lebensmittel, Pflegeartikel und Kleidung mit runden silbernen, kupfernen, goldenen Münzen oder einfachen Scheinen zu bezahlen und mir nichts dir nichts mit nach Hause zu nehmen.
Viele von ihnen meinten, dass Geld (so nannten sie es) ein Segen sei. Für andere war es jedoch ein Fluch.
Manchmal tanzten sie ganze Nächte an Orten, die meist grell erleuchtet und so laut waren, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstanden. Die Zweibeiner liebten Musik, Geselligkeit und die Selbstdarstellung. Nur deshalb taten sie sich das an.
Es waren aber auch gefühlsbetonte Wesen, die sich nach Liebe und Geborgenheit sehnten. So bildeten sie Familien. Meist bestanden diese aus einer Frau, einem Mann und ein paar Kindern. Manchmal lebten auch zwei Männer und zwei Frauen zusammen, aber das ist eine andere Geschichte. Die Frau hatte oftmals intern das Sagen, aber nach außen hin bestimmte der Mann.
Die Fortpflanzung war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
So kam es, dass einige dieser Familien ein, zwei oder drei Kinder hatten. Die Unersättlichen sogar zehn. Diese kleinen Menschen durften auf Spielplätzen ihren Spieltrieb ausleben und fröhlich sein. Mit Schaukeln in die Luft fliegen oder über Rutschen der Erde entgegensausen. Alles wurde für sie getan und man versuchte, ihnen den größtmöglichen Schutz zu gewähren.
Eine Familie passte im besten Fall aufeinander auf und respektierte sich gegenseitig.
Außerdem entwickelten sie sich permanent weiter – sie wollten immer besser und schneller werden als die Natur sie erschaffen hatte. Sie optimierten ihre Fortbewegung, vermutlich waren sie auf zwei Beinen zu langsam, und erfanden merkwürdige Blechkisten mit vier elastischen Reifen an der Unterseite. Damit rollten sie in schneller Geschwindigkeit über glatte und graue Wege, vorbei an Bäumen, Stränden, Bächen, Flüssen, Feldern, Wiesen und Häusern.
Ihre Unterkünfte waren sehr verschieden. Einige lebten in steinernen viereckigen Bauten, die schier bis zum Himmel reichten, als wollten sie die Göttlichkeit umarmen, an die manche glaubten. Einige gaben sich mit kleinen Eishäuschen zufrieden oder mit Lehmhütten, mitten in der trockenen heißen Wüste, die nur aus Sand bestand. Viele hatten allerdings nichts und lebten von der Hand in den Mund unter freiem Himmel. Wohingegen andere so viel Platz besaßen, dass sie sich in ihren eigenen vier Wänden verliefen. Wieder andere konnten nicht mehr als ein Bett in einer kleinen Kammer ihr Eigen nennen und waren dennoch zufrieden. Es handelte sich um anpassungsfähige Wesen.
Manche waren arm und manche reich. Es hing nicht davon ab, wie gut oder schlecht sie sich benahmen und nach welchen Moralvorstellungen sie lebten, sondern davon, wie viel Ehrgeiz sie besaßen, und wie viel Glück sie hatten.
So verschieden, wie ihre Lebensweisen aussahen, verhielt es sich auch mit ihrer Sprache und ihrem Aussehen. Sie waren groß, klein, dünn, dick, hatten verschiedene Haarfarben, Hautfarben und sogar unterschiedliche Gesichtsformen. Jeder von ihnen sah anders aus.
Jeder von ihnen dachte anders.
Deswegen führten sie oft unerbittliche, grausame Kriege. Die Unschuldigen wurden für den Sieg der Schuldigen geopfert. Einige wollten anstatt Liebe und Geborgenheit eben auch Ruhm und Macht.
Ihre Ansichten waren so verschieden wie die Sonne und der Mond, doch eins hatten sie alle gemeinsam:
Sie besaßen Hoffnung …
Und solange diese nicht stirbt, werden wir überleben, auch in dieser Welt.
Einer Welt, in der die Menschen zu den Mythen und Legenden gehören und die Fabelwesen Realität sind.«
1.
Sterben zwischen Holzwürmern. So fängt der Tag ja gleich gut an!
Hier lag ich also, in dieser feuchten modrigen Baumhöhle und wusste, dass mein Leben bald vorbei sein würde.
Jeden Moment würde das riesige Raubtier seine Nase in die Luft erheben und meine Witterung aufnehmen. Es würde mich riechen – einen Menschen – ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte. Ich war sozusagen eine Rarität – und dennoch nichts weiter als ein kleiner Snack zwischendurch.
Verflucht! So wollte ich nicht enden!
Ich rollte mich weiter zusammen, versuchte so leise zu atmen, wie es mir möglich war, und presste die eiskalten Fäuste fester gegen meine Brust. Der Atem entkam meinen bebenden Lippen in dampfenden Wölkchen und meine Füße wurden sicher schon blau. Die von meinem Opa selbst gemachten Lederschuhe waren löchrig und an den Sohlen so dünn, dass sie bald durchscheuern würden.
Opa. Als ich an ihn dachte, traten Tränen in meine Augen.
Ich erinnerte mich an eines der unzähligen Märchen, von denen er mir immer erzählt hatte: Von der Menschenwelt, in der sehr viele von uns lebten; in der wir die Herrscher waren und wir die Macht besaßen; in der Elfen, Zwerge, Einhörner, Greife, Gnome, Zyklopen, Pane, Nymphen, Gestaltwandler und viele weitere wundersame Wesen Geschöpfe aus Legenden und Mythen waren.
Ich fühlte mich wie das Mädchen aus der Geschichte Alice in Wunderland, von dem mir Opa erzählt hatte, und das war ich auch.
Aber jetzt war es vorbei ...
So lange hatten wir es geschafft, unentdeckt unter ihnen, den Monstern, zu leben. Ganze neunzehn Jahre war ich mittlerweile alt. Mein Opa hatte mir beigebracht, wie ich unter freiem Himmel überlebte, wo ich mich verstecken konnte, wie ich Kleidung und meine eigenen Waffen herstellte. Er hatte mir gezeigt, wer Freund und wer Feind war. Wie ich, trotz der bedrückenden Welt, in welcher wir Eindringlinge waren und erbarmungslos gejagt wurden, am Leben blieb und manchmal … aber nur dann, wenn ich am Abend zum Schlafen meinen Kopf auf seinen Schoß legte, er mir mit seiner knochigen Hand durch die Haare strich und mir seine Märchen erzählte … durfte ich sogar ein klein wenig erfahren, wie es sich anfühlte, glücklich und unbeschwert zu sein.
Ich hatte mich mit meinem Leben hier abgefunden.
Doch dann fanden sie unser Versteck.
Die Wölfe rissen Opa vor meinen entsetzten Augen in blutige Stücke. Ich konnte mich nur retten, weil sie zu beschäftigt damit waren, das dampfende, frische Fleisch zu verschlingen und sich gegenseitig anzuknurren, anstatt auf mich zu achten. Also rannte ich, so schnell mich meine trainierten Beine trugen, während mich das Reißen des Fleisches und das Knacken der Knochen meines einzigen Vertrauten und Verwandten verfolgten. Ich würde diese grauenhaften Geräusche nie wieder vergessen.
Das war vor zwei Tagen geschehen. Seitdem hatte ich weder gegessen noch getrunken, weil er mich jagte.
Wofür hatte ich mir bitte meine Hände blutig gekratzt und lag hier hungernd und durstig herum, wenn sie ja doch kommen und mich fressen würden? Ich wollte nicht bei vollem Bewusstsein verschlungen werden! Da wäre mir so gut wie jede andere Todesart lieber.
Na gut … es gab da vielleicht doch noch ein paar Arten des Ablebens, die ...
Knack.
Da! Jetzt war es … nein er … ganz nah.
Ich hielt unwillkürlich die Luft an und sogar mein eiskalter Körper hörte auf zu beben. In Zeitlupe drehte ich meinen Kopf und sah nach rechts, denn von da kam das Geräusch. Dort stieg etwas Dampf auf, wie auch aus meinem Mund. Dann hörte ich den schweren Atem der riesigen Raubkatze.
Wie gebannt starrte ich an die Stelle, bohrte dabei meine Fingernägel in die Innenfläche meiner Hände, um sie vom Zittern abzuhalten, und merkte, dass mir der Atem bald ausgehen würde. Natürlich musste meine Kehle in genau so einem Moment anfangen zu kratzen, sodass sie förmlich nach Erlösung schrie. Toll! Tod durch Husten. Als würde es noch nicht reichen, dass ich meinen Opa verloren hatte, nun ganz allein war und in dieser seltsamen Welt leben musste, in der man zwangsläufig verrückt wurde, nein, diese Bestie würde gleich mein Ende besiegeln weil ich husten musste.
NEIN!
Während ich also gegen das Kitzeln in meinem Hals ankämpfte, regte sich mein Kampfgeist. Gleichzeitig erinnerte ich mich an den Dolch, den mir Opa geschenkt hatte. Er steckte in den ineinander verwobenen, dicken Lianen, die ich mir als Gürtel und Taschenhalter um die Hüfte gebunden hatte, nur leider an meiner linken Seite – und auf der lag ich dummerweise. Ich würde nicht schnell genug rankommen. Die Bestien waren unglaublich schnell, viel schneller als ein normaler Mensch. Wieso hatte ich mich nicht gleich mit dem Dolch in der Hand zum Sterben in diese Baumhöhle gezwängt? Das war ja nun wirklich dämlich! Wenn ich schon das Zeitliche segnete, dann wollte ich das wenigstens nicht kampflos tun. Wozu hatte mir Opa das Kämpfen beigebracht? Und das ziemlich gut, denn ansonsten würde ich jetzt nicht mehr leben. Woher das der alte Mann konnte, wusste ich nicht. Er redete niemals über seine Vergangenheit, sagte immer nur mit seiner leicht knarzigen Stimme: Die Vergangenheit ändert nichts an der Zukunft. Wozu sich also übermäßig mit ihr befassen? Und damit hatte er recht. Das Wichtigste war das Hier und Jetzt. Nur dieser Moment zählte, in dem sich entscheiden würde, ob ich leben oder sterben würde.
Ich wusste, dass der Jäger mich, die Beute, genau spürte. Aber wieso zerrte er mich nicht endlich aus meinem Versteck? Kam der Wind aus der falschen Richtung und er konnte mich nicht wittern? Oder hatte er einfach Spaß an der Jagd? Wahrscheinlich machte es ihn sogar an, meine Angst zu riechen, das Vibrieren meines Körpers zu fühlen und meinen rasenden Herzschlag zu hören.
Er wusste doch sowieso, dass ich hier drin war. So nah, wie er mir war, musste er es einfach merken. Also spielte es doch keine Rolle, ob ich mich bewegte oder nicht, ob ich laut war oder nicht.
Der Husten ließ sich ohnehin nicht mehr viel länger aufhalten.
Also drehte ich mich langsam und vorsichtig auf den Rücken, ließ dabei die Ecke nicht aus den Augen, von der ich vermutete, dass er dahinter lauerte. Mein einfaches, dreckiges Leinentuch, das ich mir um den Körper gebunden hatte, gab ein raschelndes Geräusch von sich und ich erstarrte.
Gleich würde er angreifen. Er musste es gehört haben. Der Dampf versiegte und ich glaubte, er hielt die Luft an, genauso wie ich. Tränen sammelten sich in meinen Augen, als mein Hals immer mehr kratzte. Meine Brust zog. Ich zitterte. Der Schweiß stand mir mittlerweile nicht nur auf der Stirn, er überflutete mein ganzes Gesicht.
Scheiß-Gesamtlage, würde ich sagen.
Doch er griff immer noch nicht an!
Okay, er wollte es noch hinauszögern. Gut so. Dann lass mich mal schön nach meinem Messerchen greifen. Es wäre nicht die erste Raubkatze, der ich den Hals aufschlitzen würde. Na gut … die Erste war ein kleiner Luchs gewesen, der mich beim Osterhasenjagen überrascht hatte. Er war noch jung gewesen und kein Gestaltwandler. Und ich war verdammt noch mal sauer, weil er den Hasen, samt der Eier vertrieben hatte.
Die Wut und der Hunger gaben mir ungeahnte Kräfte, als er mich ansprang. Der Luchs bestand nur aus sehnigen Muskeln und gierigen gelben Augen. Ich ließ mich einfach von ihm niederreißen und zog noch im Fallen meinen Dolch. Den zerrte ich ihm einmal quer über den Hals, doch ich konnte ihn nur ein wenig anritzen. Denn es ist gar nicht so leicht, eine Kehle aufzuschlitzen, besonders die mit dichtem Fell. Nicht dass ich aus Erfahrung sprechen könnte, aber Opa brachte mir unheimlich viel bei und ich war eine gelehrige Schülerin. Manchmal dachte ich, das war mehr, als ich jemals wissen müsste, aber in unserem Leben gab es immer wieder Situationen, die jedes noch so kleine Detail nützlich machten. Also blieb ich eine gelehrige Schülerin und versuchte mir alles zu merken, was er mir erzählte.
Die Raubkatze fauchte, knurrte und sabberte mich an. Nie werde ich das vergessen, denn sie stank aus dem Maul wie ein Zwergenplumpsklo. Dieses Mistvieh kratzte mir damals meine komplette rechte Seite auf. Ich brüllte wie am Spieß irgendwelche Schimpfwörter, die mein Opa immer benutzte, wenn er wütend war oder unter Stress stand. Der Luchs war eine Millisekunde lang von den grellen Geräuschen irritiert und legte die Ohren nach hinten, als würde ihm mein Schrei Kopfschmerzen bereiten. In dem Moment stach ich einfach zu, direkt in die Schlagader an der Seite seines Halses. Mit einem Mal erstarrte die Raubkatze. Rotes, dickflüssiges Blut lief heiß an meinen Arm herab – besudelte mich und roch intensiv metallisch. Als ob der Plumpsklo-Sabber nicht schon gereicht hätte. Keuchend sah ich ihm in die Augen, während darin das Leben Stück für Stück erlosch. Dann sackte er auf mir zusammen.
Opa konnte es nicht glauben, als ich ihm, auf meinen eigenen Schultern, einen Luchs brachte, und war mächtig stolz auf mich. Ich tötete nicht gerne, aber Opa hatte mir als Erstes beigebracht, dass man in dieser Welt entweder frisst oder gefressen wird. Ich konnte mich nur schwer mit dem Gedanken abfinden, von scharfen Zähnen zerrissen, gekaut und anschließend geschluckt zu werden, also ging ich dazu über, auf der anderen Seite des Buffets zu stehen.
Auch hier und jetzt würde ich ein Leben beenden. Oder … sagen wir, ich würde es zumindest versuchen. Wahrscheinlich standen meine Chancen nicht sehr gut, aber ich hatte eine Devise: Auf keinen Fall kampflos aufgeben und niemals die Hoffnung verlieren! Wenn ich jemals etwas verinnerlicht hatte, dann ganz bestimmt das.
Also pfiff ich auf das Hören oder Nichthören, denn das war hier nicht die Frage, und veränderte meine Position so schnell, wie ich konnte. Dabei hob ich meinen Hintern, soweit es die Wurzeln über mir zuließen, ergriff den hölzernen, schnörkellosen Griff meines Dolches, zog ihn aus der selbst gemachten Scheide und hielt ihn fest in meiner rechten, leicht zitternden Faust, während ich darauf wartete, dass sich das Monster endlich über mich, sein Abendessen, hermachen würde.
Der Husten quoll fast aus meinem Mund. Meine Augen wurden wieder ganz glasig beim Versuch, das Kratzen noch mal hinunterzuschlucken. Ich hielt es nicht mehr aus … und ließ es einfach geschehen!
Er kam ... aber nicht von rechts … Nein, nein, denn Gestaltwandler sind schlau. Sie sind das, was uns Menschen am ähnlichsten ist, in ihrer » ›Menschenform‹« natürlich. Denn er, beziehungsweise ein weit aufgerissenes, rosa Maul mit messerscharfen blitzenden Zähnen, kam von oben! Die Raubkatze brüllte mich an, und ich bekam die volle Dröhnung ab. Mein bisschen Bauchspeck zitterte, doch ich ließ mich davon nicht irritieren und schoss aus meinem Versteck. Ich wusste, ich hatte nur die eine Möglichkeit, dann hieß es laufen, was das Zeug hält.
Ich brüllte ebenso, einfach, weil es mir Mut machte, und trieb meinen rechten Arm nach vorne. Die Klinge blitzte auf. Ich wollte ihn am Hals treffen, doch er zog sich blitzartig nach oben zurück, also zwängte ich mich, so schnell es ging, aus meinem Versteck, welches mir sowieso nichts genützt hatte.
Mein Fuß verfing sich in einer dieser verflixten Wurzeln. Natürlich fiel ich mit viel Schwung und dem Gesicht voran in das feuchte Laub und hustete dort auch noch weiter, als hätte ich alle Zeit der Welt und als würde mein Leben nicht gerade am seidenen Faden hängen. Die Blätter wirbelten nur so herum und verfingen sich in meinen wirren Haaren. So viel zu meinen kämpferischen Fähigkeiten! Ja, okay, ich war eine Null und dazu auch noch ein Trampeltier. Das mit dem Luchs war eigentlich mehr Zufall als Können gewesen. Aber ich versuchte es wenigstens, und auf den Kampfgeist kommt es letztendlich an, nicht wahr?
Gerade drehte ich mich auf den Rücken und befreite meinen Fuß, indem ich ihn aus dem Lederschuh zog, da sprang er auch schon mit einer geschmeidigen Bewegung herab, direkt über mich.
Er war imposant, denn einen so großen und einschüchternden schwarzen Panther hatte ich noch nie gesehen. Ehrlich, der war riesig! Wie er mich fixierte, wirkte er wie ein Gorgone und ich erwartete jeden Moment, zu Stein zu erstarren! Zwar hatte er keine steinharte Haut und Hörner, aber dafür scharfe, gefährliche Krallen, einen muskulösen wendigen Körper und Reißzähne, die so lang waren wie mein Daumen.
Seine glühenden orange-gelben Augen, die mich an einen zerstörerischen Waldbrand erinnerten, nahmen mich ins Visier, während er seine muskelbepackten Pfoten rechts und links neben mein Gesicht stemmte. Eine stellte er sicherheitshalber auf meinen Haaren ab und hielt mich damit am Boden fest. Verfluchter Gestaltwandler! Ein normales Tier hätte so etwas nie gemacht! Er sah überhaupt nicht gierig oder hungrig aus, nein, eher interessiert. Die runden Ohren waren wie bei einem neugierigen Kätzchen nach vorne gedreht.
Sein Fell war so schwarz wie ein Abgrund und glänzend wie die Nacht, aber so samtig wie Kaschmir. Es lud mich ein, meine Finger darin zu vergraben und zu erfahren, ob es wirklich so seidig war, wie es aussah. Was natürlich eine absolut dämliche Idee war. Das hier war kein Schmusekätzchen, nein, ganz im Gegenteil. Mir fiel auch spontan auf, dass er nicht aus dem Maul stank, als er sich über mich beugte. Seine kühle und feuchte Nase schnüffelte geräuschvoll an meiner Schläfe. Die festen Schnurrhaare piekten mir in die Wangen. Sein heißer Atem fegte über mich hinweg und ich wollte am liebsten aus vollem Halse schreien. Doch ich brachte keinen Ton heraus. In meinem Hals saß nicht nur ein Kloß, sondern eine ganze Kloßsuppe.
Feucht schnaubte er in mein Ohr und machte ein mehr als lustiges Geräusch, bei dem ich fast gekichert hätte, so verrückt die Lage auch war. Es erinnerte mich an ein kleines niedliches Niesen. Die Raubkatze hob, mich immer noch musternd, den Kopf und zog die Lefzen etwas zurück, als wäre er verwirrt oder besser angeekelt und verwirrt.
Arroganter Arschkater!
Wütend zog ich die Augenbrauen zusammen.
Fast schon spöttisch sah er auf mich herab. So, als würde er darauf warten, was ich als Nächstes tun würde.
In dem Moment fiel mir mein Dolch ein, den ich noch in der Hand hielt. Aber meine Mimik musste mich verraten haben, denn er blickte ebenfalls auf meine Waffe, die ich ihm kurz darauf mit der Spitze voraus warnend gegen die muskulöse Brust drückte. Vor Nervosität presste ich die Lippen aufeinander und meine Nasenflügel begannen zu flattern.
Er rollte mit den Augen. Er rollte mit den Augen?
Meine wurden jedenfalls groß und ich wusste nicht, ob ich richtig gesehen hatte. Auch wenn dies ein Gestaltwandler und somit ein menschenähnliches Wesen war, so hatte ich noch nie eines dieser Biester die Augen verdrehen sehen. Wenn sie in Tiergestalt waren, dann dachten sie wie Tiere, und benahmen sich wie eben jene! Dieser anscheinend nicht, denn ein Tier ist nicht lebensmüde. Dieser Panther offensichtlich schon.
Er drückte nämlich mit einem Mal seine samtige Brust gegen die silbern glänzende Klinge, rieb darüber, schmuste mit ihr und schnurrte auch noch dabei! Forderte mich regelrecht auf zuzustechen. Ich hätte schwören können, er lachte mich hinter diesen Sonnenuntergangsaugen aus.
Das machte mich wütend. Mehr als das! Er dachte, ich würde es nicht tun? Er dachte, ich hätte nicht den Mumm dazu? Da kannte er mich aber nicht, was genau der Wahrheit entsprach! Glaubte er etwa, er könnte mich mit seiner menschlichen Fassade hinters Licht führen? Dachte er, ich wüsste nicht, dass er mir jeden Moment die Kehle durchbeißen und mein Fleisch fressen würde, sobald ich unachtsam wurde?
Ich nahm das Angebot an und stach kurzerhand mit aller Kraft zu. Dämlicherweise rutschte ich etwas an dem steinharten Brustbein ab, dennoch, das Messer war scharf genug, um tief unter die Haut zu dringen.
Seine Augen spiegelten mehrere Facetten wider, wurden erst groß … dann ungläubig, und als er taumelnd einen Schritt zurückwich, glaubte ich ein wenig Angst in ihnen zu erkennen … oder war es vielleicht sogar Respekt? Sein Maul öffnete sich und er brüllte mich schließlich so an, dass mein Haar nach hinten flog, als würde ich vor einem überdimensionalen Föhn stehen.
Nun war es an mir, panisch zu reagieren.
Ich war längst dabei mich aufzurappeln. Es gelang mir trotz des rutschigen, nassen Laubes wunderbar, mich mal nicht wie eine Pfeife zu blamieren, und schon war ich wieder auf der Flucht. Mein Blick fiel auf die Klinge. An ihr klebte frisches rotes Blut. Blut, welches ich gerade vergossen hatte ... Im Laufen bekreuzigte ich mich und legte noch einen Zahn zu.
Die laublosen, dürren Bäumchen um mich herum spendeten keinerlei Deckung, so blieb mir nur zu hoffen, dass er allein unterwegs war und nicht noch ein paar Artgenossen die Jagd aufnahmen.
Viele Meter weit folgte mir sein wütendes Brüllen. Es schien von allen Seiten des Waldes widerzuhallen und es klang echt verdammt sauer. Wenn der mich jetzt in die Krallen bekäme, würde er mich nicht nur einfach töten, sondern langsam und qualvoll filetieren!
Wieso konnten sie uns nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso mussten sie uns jagen wie Tiere? Tja ... Weil sie es können … Wir sind nichts als magielose, schwache, kleine Mini-Insekten. Wieso dann nicht zerquetschen? Wenn die Menschen diese Macht über die Tiere hätten, würden sie auch nicht anders handeln, dachte ich sarkastisch an Opas Worte zurück und war froh, dass mein Körper drahtig und trainiert war, ansonsten hätte ich in dem Tempo nicht weit laufen können.
Das anklagende Brüllen verfolgte mich immer noch. So rasend und doch so verletzt, dass ich fast ein schlechtes Gewissen bekam.
Mit einem Mal hörte es auf und ich wollte mich schon fast umdrehen. Doch ich lief weiter und schaute auf meine Füße – wovon nur noch einer in einem Schuh steckte –, die über das Laub fegten. Verdammt!
»Warte!« Wie angewurzelt blieb ich stehen, als eine schmerzverzerrte, männliche Stimme nach mir rief. Ich konnte das Tier verwundet und sterbend zurücklassen, aber ganz sicher nicht den Menschen.
Oh nein ... lauf einfach weiter ... schrie mein Instinkt, aber ich konnte ... nicht. Also seufzte ich tief und drehte mich langsam und geschlagen um.
Er lag auf der Seite im bunten Laub und krümmte sich vor Qualen. Eine Hand presste er auf seine nackte Brust. Die schwarzen samtigen Haare waren kurz, sehr kurz und dicht, fast wie das Fell. Der Mann keuchte und fluchte zwischendurch.
Mit wilden Augen sah er auf und erkannte, dass ich tatsächlich stehengeblieben war.
Sein Blick traf mich bis ins Mark. Er wirkte einerseits so menschlich, aber andererseits deutlich animalisch. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich in diese tiefen gelb-orangenen Infernos schaute. In dieselben Augen, die er auch als Panther besaß. Gequält streckte er auch noch eine große zitternde Hand nach mir aus und gab ein geflüstertes »Bitte ...« von sich.
Wieso machte mich das jetzt schon wieder wütend? Ja okay, ich war hungrig, durstig und unausgeschlafen, deswegen auch leicht reizbar, was wahrscheinlich auch meine nächste dämliche Tat erklärte. »Was heißt hier ›Bitte‹«, schrie ich ihm zu, stapfte aber zurück. »Sollte es nicht eher heißen, entschuldige?«
Er verzog das Gesicht, als ihn eine neue Welle Schmerzen übermannte, und drückte sich die Hand an die Brust, welche er eben noch nach mir ausgestreckt hatte. Deutlich sah ich, dass er im Moment nicht antworten konnte.
Als ich vorsichtig näherkam, erkannte ich, wie glatt sein nackter Körper war, überhaupt nicht haarig … und war froh, dass er zusammengekauert auf der Seite lag, sodass ich mit den männlichen Merkmalen nicht konfrontiert wurde. Ich hatte davor noch nie einen Mann nackt gesehen. Zum Glück. Selbst bei meinem Opa blieb mir dieser Anblick erspart, weil ich mich aus Respekt immer umgedreht hatte, wenn es die Situation erforderte.
War jeder Mann so muskulös? Wahrscheinlich nicht. Ein Faultier-Gestaltwandler war sicher dick und träge. Der hier wirkte eher langgezogen, drahtig und war eindeutig am Verbluten. Unter ihm bildete sich bereits eine tiefrote Lache. Ich musste eine Arterie getroffen haben. Dafür schlug ich mir voller Stolz auf die Schulter, natürlich nur mental.
Ich beugte mich für meine nächsten Worte hinab, flüsterte sie ihm langsam und betont zu: »Du wolltest mich fressen, du Monster! Und jetzt willst du meine Hilfe? Vergiss es! Schmecke deinen eigenen Tod.« Seine Augen öffneten sich wieder. So … unschuldig und verwirrt.
»Du bist wirklich ein Mensch«, presste er mit tiefer Stimme hervor, die sich unauffällig um meinen Geist schmiegte, auch wenn sie vor Schmerzen verzerrt war. Nur mit einiger Anstrengung sprach er weiter. »Das kann nicht sein, es gibt keine … Menschen. Ich muss … bereits … tot sein.« Er lachte, eindeutig humorlos und rollte sich auf den Rücken. Ich zuckte zusammen, weil ich Dinge sah, die ich nicht sehen wollte, und schlug eine Hand vor meine Augen. Angestrengt hustete er. Worauf er keuchte und wieder eine Hand auf seine Wunde presste.
»Du bist nicht tot«, versicherte ich ihm ironisch. Irgendwie irritierte er mich und sein nackter Körper erst recht. Die Lache unter ihm wurde immer größer. Sein leicht vernebelter und etwas verwirrter Blick suchte wieder den meinen. Dann streckte er erneut die Hand nach mir aus, während er selbstvergessen auf dem kühlen Waldboden lag. Ich war froh, dass er sich nicht wie eine Katze hin und her rollte. Er sah irgendwie danach aus, als würde er so etwas gerne tun … und es würde sicher gut aussehen.
»Bitte«, wiederholte er leise. Fast wie eine Aufforderung.
»Was denn schon wieder?« Ich zog eine Augenbraue skeptisch nach oben.
»Bitte, darf ich dich berühren? Ich habe noch nie …«, er hustete, »einen Menschen berührt.«
Meine Augen wurden groß. Damit hatte ich nicht gerechnet. Stattdessen hatte ich gedacht, er würde mich anbetteln, damit ich ihm das Leben rettete, aber nicht darum, mich anzutatschen.
»Angeschnüffelt hast du mich ja sowieso schon …«
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. Wenn das der letzte Wunsch dieser Bestie war, dann konnte ich mich wohl als gnädig erweisen.
Also kniete ich mich neben ihm nieder und reichte ihm netterweise meine Hand. Sie zitterte kein bisschen und ich war wieder mal sehr mit mir zufrieden. Er nahm sie ein wenig zaghaft. Seine war blutverschmiert, meine dreckverkrustet. Wir ergriffen unsere Hände, als würden wir sie jeden Moment schütteln, wobei meine kleine fast in seiner großen verschwand. Sein Daumen strich fasziniert und hauchzart über meine Haut, schickte kleine flimmernde Wellen durch meinen Körper, bis tief in meinen Bauch. Dabei betrachtete er mich forschend mit diesen großen, unschuldigen Augen und in diesem Moment wurde mir etwas klar, das mein Herz dazu brachte, geradewegs aus meiner Brust springen zu wollen.
Dieses Monster war schön.
Zu schön, um ein Monster zu sein und doch war er eines. Diese Welt war wirklich mehr als nur verwirrend.
Plötzlich huschte ein merkwürdiger Ausdruck über sein Gesicht. Nur eine Sekunde sah ich es und war sofort alarmiert, ohne erfasst zu haben, was die Veränderung in seinen Augen zu bedeuten hatte. Ich wollte meine Hand zurückziehen, doch schon wirbelte ich durch die Luft und landete auf dem Rücken …
Er … auf … mir.
Verdammt, der Arschkater hatte mich reingelegt!
»Glaubst du wirklich, so ein mickriger Stich kann mich töten?«, knurrte er in mein Gesicht, und ich blickte an die Stelle, wo sich seine glatte harte Brust gegen meine drückte. Sein Blut verschmierte meine Kleidung, obwohl sich seine Wunde bereits geschlossen hatte, als wäre niemals etwas gewesen.
Entrüstet sah ich wieder hoch in seine Augen und presste die Lippen aufeinander. Dieser elende Betrüger!
Meine Miene versprach ihm stumm, dass ich ihm den Kopf abreißen würde, denn er hatte mich böse getäuscht und mir vorgegaukelt, er sei verletzt, nur um mit mir zu spielen und mich zu verwirren. Aus Jux und Tollerei hatte er mich zur Idiotin gemacht! Mein Körper fing an, vor Wut zu beben. Doch ich hatte noch einen Trumpf: das Messer! Noch immer war es in meiner Hand. Ich versuchte nicht hinzusehen, aber zu spät.
Er musste meine Gedanken gelesen haben, denn er hauchte voller Ruhe und irgendwie sinnlich »Vergiss es« direkt an meinen Lippen. Dabei stellte ich fest, dass auch in dieser Gestalt sein Atem ganz sicher nicht nach einem Plumpsklo roch. »Du kannst mich nicht töten. Lass es fallen, bevor ich dir wehtun muss«, raunte er mit dieser samtigen Stimme, die mich wünschen ließ, dass ich erfahren könnte, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er nackt auf mir lag und mir ins Ohr flüsterte. Gleichzeitig fiel mir auf, dass er das bereits tat und ich wollte mich für meine Gedanken selbst schlagen!
Ich spürte sein Gewicht auf mir, jedes einzelne Kilo. Anstatt es mir zu erleichtern, presste er mich weiter in den Boden, sodass ich mir wie einem fleischlichen, warmen Käfig vorkam. Er schüchterte mich ein und brachte mich gleichzeitig in Verlegenheit. So nah war ich einer dieser Bestien noch nie gekommen und ganz sicher auch keinem Mann. Ich versuchte, mir meine Scham und meine innerliche Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
Stattdessen hob ich die Hand und drückte ihm die Klinge so schnell ich konnte an die Kehle.
Verdammt, ich wünschte, ich hätte wenigstens eine winzig kleine Sekunde Angst in seinen großen Augen aufblitzen sehen. Aber da war nichts weiter, nur dieses amüsierte Funkeln. Und zu allem Übel gesellte sich jetzt auch noch etwas anderes Fleischliches, Primitives dazu, das aber ganz und gar nichts mit Hunger zu tun hatte.
»Du wirst höchstwahrscheinlich nicht sterben, aber du wirst ganz sicher Schmerzen empfinden. Ist es das wert?«, zischte ich und drückte zur Bekräftigung meiner Worte fester zu. Sein Mundwinkel hob sich. Er war so nah, dass ich jede Feinheit seines Gesichtes erkennen konnte, jeden Makel: das Muttermal auf der rechten Seite der Unterlippe, die Narbe in seiner schwarzen, markant geschnittenen Augenbraue über seinem linken Auge; die etwas krumme Nase, die darauf hindeutete, dass sie mehr als einmal gebrochen gewesen war, die aber dennoch auf ihre eigene Art perfekt schien; die hohen Wangenknochen, die ihn eigentlich hätten feminin machen müssen, aber durch den kantigen Kiefer und das starke Kinn mit dem Grübchen alles andere als weiblich wirkten. Er war die pure Männlichkeit und in seinem Blick lag noch viel mehr als das. Dort fand ich Überheblichkeit, etwas Majestätisches und vor allem Macht. Mit was für einem Gestaltwandler hatte ich mich hier nur angelegt? Das war keiner der gewöhnlichen Sorte, so viel leuchtete mir ein!
Und das Ganze wurde auch noch dick und rot unterstrichen, als er sich zu mir herunterbeugte, sodass sich die Klinge in seine Haut bohrte und ein feines Rinnsal Blut floss. Sanft rieb er seine Nase an mir, dann seine leicht stoppelige Wange, bis seine weichen Lippen an meinem Ohr lagen und ich nicht nur von seinem Körper, sondern auch von seinem Geruch niedergedrückt wurde. Noch immer roch er nicht nach Verwesung, sondern nach einem klaren Bach in einem sauberen, schönen Wald. Er duftete nach Wildnis und purer Reinheit. Ein Duft, der einen automatisch einlullte und an Freiheit erinnerte.
»Ich stehe auf Blut und Schmerzen«, flüsterte er rau. Meine Hand fing an zu zittern, als er seine Kehle noch weiter gegen die Klinge drückte. Der Schnitt wurde immer tiefer und das hier immer verrückter, weil ich ihm plötzlich nicht mehr wehtun wollte.
»Diese Schmerzen werden dir nicht gefallen und jetzt hör auf, mich zu zerquetschen, du Psychokater!«
Jetzt lachte er, laut und melodisch, nicht schmerzverzerrt, und warf dabei den Kopf zurück, sodass ich einen perfekten Ausblick auf den langen Hals, seine blutverschmierte muskulöse Brust und die ansehnlichen breiten Schultern hatte. Ich schluckte angestrengt, denn sein Gelächter nistete sich in meinem angespannten Bauch ein, glitt in warmen verlockenden Wellen durch meinen Körper und entspannte ihn, als würde er mich sanft streicheln.
Er verstummte abrupt und sah mich einige Sekunden lang an.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Okay!«
Was Okay, wollte ich fragen, doch er war schon wieder in Bewegung und ich zwangsläufig mit ihm. Er rollte uns geschickt herum, sodass ich auf seinen nackten Hüften zum Sitzen kam, die Klinge immer noch an seinen Hals gepresst. Leider hatte sie inzwischen jede Gefährlichkeit verloren. Er besaß auch noch die Nerven, die Arme locker hinter dem Kopf zu verschränken und mit einem Grinsen zu mir aufzublicken, das zwei ansehnliche Grübchen in seinen Wangen betonte. Dabei wirkte er absolut unbekümmert. So, als wäre das hier für ihn mal eine nette Abwechslung zu seinem Alltag.
Bis über beide Ohren grinsend, neckisch und auch fordernd lag er nun also unter mir und betrachtete das seltene Menschlein, das auf ihm saß und keine Ahnung hatte, wie es mit der Situation umgehen sollte.
Ich konnte zwischen meinen Beinen fühlen, dass ihm der derzeitige Ausblick gefiel, und prompt stieg verräterische Röte in meine Wangen, wie Lava, die sich ihren Weg aus dem Vulkan bahnt.
Wie er da so im trockenen Laub lag, mit diesem Funkeln in den Augen und dem Lächeln im Gesicht, wollte ich ganz andere Dinge mit ihm tun, als ihn aufzuschlitzen. Dinge, an die ich bis jetzt noch nicht mal mit meinem kleinen Zeh gedacht hatte … Prompt verstärkte sich die Röte, genauso wie sein dämliches Grinsen, als wüsste er nur zu gut, was er mir antat.
Die Klinge befand sich immer noch an Ort und Stelle. Meine Hand fing langsam aber sicher an, sich zu verkrampfen und infolge dessen zu zittern. Dennoch war ich noch nicht bereit, das Einzige, was mir mentale Sicherheit bescherte, aufzugeben. Auch wenn ich wusste, dass der Dolch mir in Wirklichkeit rein gar nichts brachte.
Er ließ sich von dem mittlerweile fast vibrierenden Messer nicht stören, hob vorsichtig die Hand und strich mir doch tatsächlich über die Wange. Dabei fühlte ich, wie er sein Blut in meinem Gesicht verschmierte, und hätte es eigentlich eklig finden müssen … ja, müssen. Doch ich konnte mich nicht überwinden, tatsächlich so zu empfinden. Langsam glitt er mit seinen Fingerspitzen hinab, sodass jetzt vermutlich fünf rote Striemen mein Gesicht zierten, umfasste dann zart meinen Kiefer und strich mit seinem Daumen über meine Unterlippe. Sie erbebte unter seiner Berührung und ich biss schnell darauf. Doch auch davon ließ er sich nicht abhalten, fuhr stattdessen mit seiner Hand einfach in meine Haare. Fühlte sie, knetete sie … Ich hätte fast den Kopf nach hinten gebeugt und aus tiefster Seele geseufzt. Aber nur fast.
»So habe ich mir Menschen nicht vorgestellt«, sinnierte er, und ja, auch ich hatte eine andere Vorstellung von den Monstern gehabt! Ich hatte gedacht, dass sie sich auch in Menschenform wie Tiere benahmen, dass nur das Recht des Stärkeren zählte, dass sie Blut rasend machte und besonders menschliches Fleisch. Dieses hier hingegen schien ganz ruhig und ausgeglichen, bis auf einen leicht verspannten Zug um seine Augen und ein Zucken in seiner Wange, welches vielleicht darauf hindeutete, dass es ihn doch Anstrengung kostete, mich zu berühren, und dabei auch noch Blut zu sehen und zu riechen.
»Woher kommst du?«, erkundigte er sich mit tiefer Stimme. Ich entschied mich, ihm nicht zu antworten. Keine Ahnung, was er mit seiner Frage bezwecken wollte.
Wieder verdrehte er die Augen und ich sah dabei deutlich den Panther in ihm. Und als er sich plötzlich aufrichtete und einen Arm um meine Taille schlang, stieg ein Kichern meine Kehle empor.
Sein hübsches Gesicht, das fein, aber wie gesagt, alles andere als weiblich wirkte, war meinem plötzlich wieder ganz nahe. Es verschlug mir die Sprache. Von unten blickte er mich schmunzelnd durch einen dunklen Fächer Wimpern an, für den so manche Nymphe alles gegeben hätte.
»Du musst keine Angst vor mir haben. Ich werde dich schon nicht fressen.« Er ließ es sexuell klingen. So, als würde es nicht stimmen, was er sagte. Mir wurde untenrum so heiß, dass ich mich am liebsten aus den Kleidern geschält hätte. Mein Atem ging immer schneller, je länger er mir so nahblieb. »Du weckst in mir ganz andere Gelüste.« Schelmisch hielt er mich mit seinem Blick gefangen, vielleicht meinte er, dass sich ihm niemand verwehren konnte. Und ich muss zugeben, in diesem Moment konnte ich das auch nicht. Davon hatte ich schon gehört. Gestaltwandler strahlen eine starke sexuelle Energie aus, die sie benutzen können, um andere Wesen zu beherrschen und ihnen ihren Willen aufzuzwingen. »Es würde dir gefallen. … Versprochen!« Seine Hand rutschte ungeniert an meinem Rücken hinab, bevor er meinen Hintern packte und mich mit dem Unterkörper gegen sich drückte.
Er war hart.
Ein peinlicher keuchender Laut, tief aus meiner Kehle, entschlüpfte meinen Lippen, als er der Bewegung mit seinen Hüften entgegenkam. Schnell krallte ich mich in seine Schultern, um nicht einfach umzukippen. Immer noch mit dem Messer in der Hand, das ich schon fast vergessen hatte.
»Du riechst so … verführerisch …« Seine Nase glitt über mein Schlüsselbein, welches aus dem verrutschten Stoff herausschaute. Dabei konnte ich seine seidigen, raspelkurzen Haare bewundern, und widerstand gerade so dem Drang, über seinen runden Kopf zu streichen und auch ihn zu erkunden. Bei all dieser Nähe schlug mein Herz allerdings bis zum Hals und das Adrenalin rauschte durch meine Blutbahn. Für keine Sekunde hatte ich vergessen, dass er immer noch ein Raubtier war, und dass er mir mit einer winzigen Bewegung die Kehle rausreißen konnte, wenn es ihn übermannte.
Er schien jedoch ganz andere Dinge vorzuhaben und die waren mir genauso wenig geheuer.
»Ich frage mich, wie du schmeckst …« Mit einem Mal fühlte ich etwas Nasses, Heißes, das über mein Schlüsselbein glitt.
Der peinliche keuchende Laut aus den Tiefen meiner Kehle kroch wieder nach oben, worauf ich schnell eine Hand vor den Mund schlug, damit er ihn nicht hörte. Er lachte heiser gegen meine Haut. Sein Lachen machte das alles nicht besser und streichelte wieder mein Inneres mit sanften, gemächlichen Berührungen.
»Ich weiß, dass du erregt bist. Du kannst es nicht vor mir verstecken, also lass es sein und entspann dich.« Verführerisch lächelnd blickte er wieder in mein Gesicht, und ich war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, ihn endlich von mir zu schieben und ihn zu küssen. Schnell schüttelte ich den Kopf, um solche Gedanken zu vertreiben. Er kostete diese Macht über mich aus und war sich vollkommen sicher, dass er das kleine dumme Menschlein in seiner Gewalt hatte. Dass er ein neues Spielzeug gefunden hatte, mit dem er sich die Zeit vertreiben konnte. Ich sah es in seinem selbstsicheren, überheblichen Blick und erkannte auch, dass er mehr mit mir vorhatte, als hier im Laub zu sitzen und mich mit Worten zu verführen.
Da hatte er sich nur leider die Falsche ausgesucht! Ich musste mich zusammenreißen, musste diesen harten Körper unter mir verdrängen, egal, wie gut es sich auch anfühlte, von ihm gehalten zu werden! Ich war stark! Ich würde sicher keine Sklavin werden, wovon er zweifelsfrei mindestens ein Dutzend besaß!
Ich lächelte. Langsam.
Er runzelte etwas irritiert die Stirn, ließ es aber zu, als ich mit meinen Fingern in seinen Nacken glitt und dort mit den seidig zarten, kurzen Härchen spielte. Dabei löste ich meine Finger natürlich noch immer nicht von meinem Messer. Keine Ahnung, was ich tat, ich machte es einfach, denn ich musste ihn loswerden, bevor er diesen gruseligen erotischen Bann weiter um mich spann und ich komplett willenlos wurde.
»Du bist wirklich sehr hübsch, wenn nicht sogar atemberaubend gut aussehend und deine Stimme … Sie ist wahnsinnig erotisch … Sie bewegt etwas tief in mir …«, flüsterte ich. Er sah aus, als hätte er das schon tausendmal gehört und als könnte er es noch weitere tausend Male hören. Selbstzufriedener, arroganter Arschkater! »Du bist so stark, so männlich, so … mächtig. Als wärst du ein König.« Besagter Arschkater wirkte immer selbstzufriedener und war froh, dass ich das auch endlich zu erkennen schien. Bei jedem neuen Kompliment nickte er zustimmend, was unter anderen Umständen mehr als witzig gewesen wäre.
Langsam beugte ich mich weiter hinab, sodass unsere Gesichter nur noch millimeterweit voneinander entfernt waren. Gott, mir wurde ganz anders … Trotzdem flüsterte ich direkt in seinen Mund. »Du bist einfach gesagt … eine stinkende, seelenlose Bestie und ich werde mich dir niemals hingeben!« Damit stach ich ihm das Messer tief in den Rücken. Vielleicht war das feige, so von hinten, mit Sicherheit alles andere als nett, aber ich musste diese Chance nutzen.
Im nächsten Moment sprang ich von ihm herunter und war froh, dass er durch den Schock seine Umarmung gelockert hatte. Er grölte wütend – menschlich – mit einem Hauch von tierischem Brüllen.
»Ich dachte, du stehst auf Schmerzen?«, rief ich ihm frech zu, lachte sozusagen der Gefahr ins Gesicht –, dann stürzte ich schnell davon.
Im Laufen drehte ich mich erst um, als sein Geschrei verstummte.
Er kniete nackt und muskulös wie eine Statue der perfekten Männlichkeit auf dem Waldboden. Angst einflößend langsam hob er das Gesicht und sah mich an, als wäre er von einem Dämon besessen. Drohend verengte er die Augen zu Schlitzen und zog die Lippen hoch über seine geraden, strahlend weißen Zähne. Sein Knurren konnte ich genauso tief in meinen Bauch fühlen wie sein Lachen zuvor.
Dieser animalische Ton war die einzige Warnung, bevor ich schockiert mit ansehen musste, wie er anfing, sich zu verwandeln … wie sich seine Knochen und Muskeln unter der glatten makellosen Haut verschoben, neu zusammenfügten und förmlich anschwollen.
»Nein!«, schrie ich panisch und rannte noch schneller. Doch ich wusste, nachdem was ich gerade getan hatte, gab es kein Entkommen mehr.
2.
Obwohl ich ganz genau wusste, dass ich keine Chance hatte zu entkommen, rannte ich um mein Leben.
Er war nur ein paar Meter hinter mir gewesen, als er angefangen hatte sich zu transformieren. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis die Bestie den Menschen verdrängt hatte. Denn das war das erste Mal, dass ich einer Verwandlung beiwohnte. Diese Frage wurde schon nach ein paar Schritten geklärt, als ein Brüllen meine Eingeweide förmlich erzittern ließ.
Toll! Nun war ich tot. Ich sah über meine Schulter und bemerkte voller Grauen, dass er mir bereits leichtfüßig folgte. Ruhig lief der schwarze Panther hinter mir her und ich wusste, dass er mir auch noch belustigt gewunken hätte, wenn er noch in Menschenform gewesen wäre. Wie robust waren diese Wesen eigentlich? Ich hatte ihm zweimal meinen Dolch in den Körper gerammt und trotzdem waren seine Bewegungen kraftvoll und geschmeidig. Außerdem schien er nicht mal mehr wütend zu sein oder mich zerfleischen zu wollen, sondern tänzelte seelenruhig hinter mir her.
Dennoch versuchte ich, noch mehr aus meinem Körper herauszuholen.
Es machte tatsächlich den Eindruck, als hätte er was ganz anderes im Sinn, als mich nur zu fressen, doch für das würde ich mich ganz sicher nicht hergeben! Ich wollte nichts mit diesen Monstern zu tun haben. Sie waren unberechenbar. Bestien. Menschliche Regeln, die mir mein Opa beigebracht hatte, waren ihnen egal. Sie lebten nach ihren eigenen Gesetzen. Und ich, einer der wenigen Menschen, war nicht bereit, mich diesen zu beugen.
Also rannte ich, bis die Muskeln in meinen Waden brannten und der Schweiß in Strömen über mein Gesicht lief. Das einfache Tuch, welches mich kleidete und mit Blut getränkt war, klebte an mir wie eine zweite Haut.
Keine Ahnung, wie lange ich lief, aber irgendwann lichtete sich der feuchte Nebel immer weiter und die Luft erwärmte sich. Ich näherte mich wohl der Dschungel-Zone. Mein Opa hatte mir erklärt, dass hier, anders als auf der Menschenwelt, keine Jahreszeiten existierten, sondern verschiedene Zonen: In einer herrschte immer Winter, in der nächsten Sommer und so weiter. Es gab entweder Regenwald oder Wüste, eine dunkle und eine helle Zone und natürlich eine lunare sowie eine sonnige Zone. Es existierten unzählige Ebenen auf diesem Planeten, wo die klimatischen Verhältnisse konstant blieben, in denen dafür aber unterschiedliche Wesen lebten und ich kannte noch lange nicht alle. Im Regenwald beispielsweise regierten die Gestaltwandler. Ich betrat also gerade sein Gebiet. Wunderbar, genau das, was ich brauchte!
Überlebenstrick Nummer eins: Wenn der Feind dir auf den Fersen ist, dann verstecke dich einfach auf seinem Territorium … aber nur, wenn du unsagbar dumm bist!
Umzukehren kam jedoch nicht infrage, also blieb mir nur, auf das Glück der Dummen zu hoffen!
Ich vernahm ein verspieltes Knurren zu meiner Linken und blickte durch die Bäume. Ganz leger joggte er parallel zu mir ein paar Baumreihen weiter. Sein muskulöser Körper beugte und streckte sich ohne jegliche Anstrengung, dabei wirbelten die riesigen, schwarzen Pranken wie in Zeitlupe das Laub auf. Er zeigte mir, dass er mich dann in seine Fänge bekommen würde, wenn er das wollte. Denn nun bestimmte er die Regeln. Ich zeigte ihm im Gegenzug den Mittelfinger. Die Geste kannte ich von meinem Opa und sie war anscheinend auch in dieser Welt bekannt. Er strauchelte tatsächlich kurz, näherte sich mir aber weiter.
In meine Oberschenkel gesellte sich ein Ziehen dazu, weil ich nun bergauf rannte. Die kahlen hellen Bäume lichteten sich. Die Blätter, die stets den Boden bedeckten und niemals anfingen zu faulen, wurden weniger. Blanke Erde kam zum Vorschein, bis sie sich langsam in rauen Stein wandelte, der sich schmerzhaft in meinen unbeschuhten Fuß bohrte.
Mit einem Mal verzog sich der Nebel und ich hielt abrupt an, weil ich mich am Abgrund einer Klippe wiederfand.
Vor mir erstreckte sich das dichte, grüne Blätterdach des Regenwaldes. Feuchte, heiße Luft strömte mir ungehindert entgegen und erfasste meine verschwitzten Haare. Übergroße Papageien zogen ihre Bahnen und ein paar Phönixe glitten majestätisch mit ihren Feuerschweifen umher. Unter mir schlängelte sich ein breiter Fluss entlang. Wie aus dem Nichts entsprang aus dem Stein unter mir ein Wasserfall und ergoss sich laut dröhnend und wild rauschend im Gewässer etwas weiter unten.
Keuchend wirbelte ich herum, doch es war zu spät. Der Panther trat bereits mit nach unten gebeugtem Kopf zwischen den Bäumen hervor und taxierte mich. Fluchend wich ich einen Schritt zurück und kam der Kante zu nah. Ein paar Steine lösten sich unter meiner Hacke und rieselten in die tosende Tiefe hinab. Ich konnte gerade noch so mein Gleichgewicht halten.
»Bleib sofort stehen …«, forderte ich atemlos. Natürlich tat er es nicht, sondern senkte den Kopf weiter und kam auf mich zugeschlichen. Sein langer schwarzer Schwanz peitschte zu allen Seiten, die Ohren waren angelegt. Er sah majestätisch, aber vor allem beängstigend aus.
Seine Reichweite war nicht zu unterschätzen, also musste ich schnell handeln. Ich blickte über meine Schulter, hörte ein paar Fabelvögel kreischen und das Wasser unter mir dröhnen, dann schaute ich wieder zurück.
Entweder ich landete bei ihm, als eine menschliche Sklavin, als sein willenloses Spielzeug, oder ich sprang von einer Klippe in ein unbekanntes Gewässer voller tödlicher Gefahren.
Natürlich wählte ich die zweite Möglichkeit, vermutlich, weil ich verrückt und unbeugsam war, oder nichts mehr zu verlieren hatte als mein bloßes Leben. Es war ja nicht so, als ob ich mir noch um irgendjemanden Sorgen machen müsste ... oh Opa, du fehlst mir so sehr ...
Genau in dem Moment, als er sich duckte und von einem Hinterbein auf das andere trat, wirbelte ich herum und sprang kopfüber in die Tiefe.
Ich hoffte, dass der See unter dem Wasserfall tief genug war und ich mir nicht den Schädel aufschlagen würde. Einen Augenblick flog ich mit den Vögeln durch die Luft und sah einem Phönix in sein rotes, ruhiges Auge, dann tauchte ich schon in die eisige Kälte ein. Sie umfing mich mit unerbittlichen Armen und raubte mir den Atem. Das Wasser war so tief, dass ich den Boden nicht sehen konnte, obwohl es rein und klar war.
Durch die Blubberblasen hindurch, die mein Eintauchen verursacht hatten, sah ich grüne schlammige Wesen auf mich zukommen. Wassermänner! Die hatten mir gerade noch gefehlt!
Sie waren klein und an Land absolut ungefährlich, weil sie dort nicht atmen konnten. Im Wasser jedoch waren sie als Kiemenatmer und mit den Schwimmhäuten zwischen ihren Fingern und Zehen sowie ihrem wendigen Körper nicht zu unterschätzen. Ihre Spezialwaffen waren kleine spitze Zähnchen, mit denen sie ALLES bis zur Unkenntlichkeit zerfleischen konnten.
Auch wenn sie nicht sehr groß und einzeln vermutlich gut abzuwehren waren, so traten sie wie viele Fische im Schwarm auf. Sofort kamen sie von allen Seiten auf mich zugeschossen und ich versuchte, nicht panisch zu werden oder gar zu schreien, während ich mich nach oben strampelte. Überlebenstrick Nummer zwei: Unter Wasser zu schreien ist keine gute Idee.
während ich mich an Oberfläche kämpfte, verlor ich auch noch meinen zweiten Schuh. Langsam ging mir die Luft aus und ich war froh, als ich endlich laut japsend Sauerstoff in meine Lungen pumpen konnte. Die Wellen unter dem Wasserfall waren stark und nahmen mir die Orientierung. Das Rauschen dröhnte in meinen Ohren und die Nässe peitschte mir hart ins Gesicht. Ich fühlte, wie mich eins dieser Viecher ins Bein biss und trat nach ihm. Dann schwamm ich planlos drauflos. Das tosende Wasser um mich herum drohte mich jeden Moment zu verschlingen, also entschied ich mich schließlich, freiwillig zu tauchen. Dort unten war es wenigstens ruhig und ich konnte ausmachen, in welcher Richtung sich das Ufer befand. Außerdem würde ich so die Winzlinge sehen, die mich bei lebendigem Leib mit ihren kleinen Zähnchen anknabbern wollten.
Einen Moment bereute ich es, als ich untertauchte, denn jetzt erkannte ich, wie viele Wassermänner wirklich aus der Tiefe kamen und mich nackt und aus hungrigen Augen betrachteten. Sie waren alle männlich. Es war lächerlich, was da zwischen ihren Beinen baumelte und ich benahm mich lächerlich, weil ich überhaupt hinsah. Fast hätte ich gelacht. Aber unter Wasser zu lachen ist genauso eine schlechte Idee wie zu schreien, so nebenbei bemerkt.
Panisch ließ ich meinen Blick umherschweifen und erspähte zu meiner linken eine Steinwand – das Ufer!
Die Wassermänner mit den kleinen Dingern kamen immer näher, also beeilte ich mich und schwamm so schnell wie noch nie in meinem Leben. Sie kratzten über meine Beine und versuchten, sich an meinem Körper hochzuziehen. Ich strampelte etwas, doch konzentrierte mich in erster Linie aufs Schwimmen. Der größte Fehler, den ich jetzt machen könnte, wäre mich ihnen zu stellen. Sie würden alle über mich herfallen und mich ins tiefe Wasser hinabzerren.
Das Ufer kam in meine Nähe. Fast schluchzend berührte ich den rauen Stein mit bebenden Fingerspitzen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug, sobald ich Frischluft genießen konnte, und stemmte meine Hände auf einen der flachen, glitschigen Steine, die sich dort angesammelt hatten. Grunzend hievte ich mich nach oben, während an meinen Beinen schon fünf Wassermänner hingen und mich versuchten, wieder in die Tiefe zu ziehen. Doch sie mussten ihre Bemühungen unterbrechen, als ich mich komplett in Sicherheit schob. Wütend ließen ein paar von mir ab und den penetranten Rest schüttelte ich wie ein paar überreife Pflaumen von meinen Beinen ins kalte Nass, wo sie völlig außer sich schrien und tobten. Sie drohten mir mit ihren kleinen Fäusten, dann verschwanden sie … Völlig geschafft drehte ich mich auf den Rücken und verschnaufte atemlos. Das war ja gerade noch mal gut gegangen …
Die Sonne strahlte auf mein Gesicht herab und trocknete es. Für einen Moment schloss ich die Augen und entspannte mich. Im nächsten umfing mich heftiger Gestank. So, als würde etwas in der Sonne verwesen, und das schon seit Tagen. Ich wusste, um was es sich handelte, und rappelte mich schnell auf dem glitschigen Stein auf, um von hier wegzukommen. Keinesfalls wollte ich mit dem Mapinguari Bekanntschaft schließen. Es war ein riesiges Wesen mit braunem zotteligem Fell, das ein wenig aussah wie ein Mensch, dafür aber gute zwei Meter maß und sein Kopf nur von einem riesigen braunen Auge eingenommen wurde. Sein Maul jedoch trug er am haarigen Bauch spazieren. Damit stürzte er sich liebend gern auf seine Opfer, wenn sie nicht so schlau waren und die Flucht ergriffen, sobald sein fauliger Geruch die Lungen füllte.
Schnell stolperte ich tropfend drauflos – direkt in den dichten Dschungel. Es war gefährlich hier herumzulaufen. Fleischfressende Pflanzen, so groß wie ein Baum, waren das geringste Übel. Ich musste dieses Gebiet schnell verlassen, ansonsten währte mein Leben nicht mehr lange. Dryaden – Nymphen, die mit ihren Bäumen auf Leben und Tod verbunden waren – winkten mir freundlich zu, aber ich ignorierte sie, denn ich wollte hier weg, und wenn sie einen einmal in ein Gespräch verwickelten, konnte dies Tage dauern. Über mir flog ein Rock und verdeckte alles mit seinem riesigen großen Schatten. Es war ein Adler von der Größe eines Elefanten und sein gelbliches Gefieder strahlte in der Sonne. Ich liebte diese Tiere. Aber in diesem Moment hatte ich für all diese Pracht keinen Kopf, nur eines lag mir im Sinn und das war Überleben!
Am Rande einer Lichtung suchte ich mir einen Ort, um wenigstens kurz zu verschnaufen, denn ich war so erschöpft, dass mich meine Beine keinen Meter mehr tragen wollten. An einem großen Baum, dessen Wurzeln den Boden aufgerissen hatten, lehnte ich mich an. Aber davor testete ich erst, ob dieser nicht zum Leben erwachen und mich mit seinen Ästen zu Brei schlagen würde. Nein, das war kein lebender Baum. Entkräftet ließ ich mich an ihm hinabgleiten, bis ich saß, stützte meine Arme auf meine Knie und meinen Kopf in meine Hände. Erst jetzt merkte ich, dass ich den Dolch immer noch umklammert hielt. Ich steckte ihn in die Scheide, die an meinem selbst gebastelten Gürtel hing.
Noch einmal war ich davongekommen, aber dafür steckte ich jetzt im Dschungel fest. Da war mir der Nebelwald lieber gewesen. Dort war es nicht so verworren, so bunt und so voll mit Gefahren. Der Nebelwald lag jenseits der Klippe. Ich müsste wieder hochklettern. Aber vielleicht fand ich auch einen netten Riesen, der mich hochhob? Oder ich würde weiterziehen und mich in die Wüstenebene begeben. Allerdings gab es dort auch sehr unfreundliche Geschöpfe. Ich könnte auch weiter nach Norden gehen, dorthin wo sich die Hochebenen und Wälder befanden? Mein Opa und ich hatten dort eine Zeit lang gelebt. Da kannte ich mich gut aus und wir hatten einen Bekannten – den Pan.
Was würde Opa jetzt wohl tun?
Ich erinnerte mich zurück: an sein rostbraunes, runzliges Gesicht mit dem weißen Ziegenbart und an seine immer lächelnden, braungrünen Augen; an sein Selbstbewusstsein und seinen Glauben, den er trotz dieser verrückten, feindlichen Welt, in der wir lebten, nie verloren hatte. Noch immer konnte ich ihn vor mir sehen, in seinen blauen, komischen Hosen, die ihm bis zur Brust reichten und an Trägern von seinen dünnen Schultern hingen. Er wollte mir nie erzählen, woher er die Hosen hatte, aber Tatsache war, dass sie weit waren. Und dass er alles, was er so gebrauchen konnte, in eine Tasche am Bauch steckte. Außerdem hatte er aus einem Stück Stoff eine Art Rucksack gefertigt, in dem wir unsere Besitztümer mit uns herumschleppten. Es war nicht viel: eine fransige Decke; ein paar verschieden große Messer; eine Steinschleuder, die aber tödlich sein konnte, wenn man das richtige Geschoss benutzte; ein Zauberbuch, das er aber nie vor meinen Augen angewendet hatte; eine Plane aus wasserdichtem blauem Stoff und ein paar feste Seile und Schnüre. Jetzt war alles verloren. Ich hatte nur das, was ich am Körper trug.
Er war ein herzensguter und netter Mensch gewesen und hatte mir gezeigt, was es hieß zu den Guten zu gehören, Mitgefühl und ein Gewissen zu besitzen. Damit hatte er uns oft in Schwierigkeiten gebracht, weil er immer den Helden spielen musste. Wegen seiner hilfsbereiten Ader hatten wir schon so einige Male in Lebensgefahr geschwebt. Ich hatte jedoch immer alles mitgemacht, weil er stets gesagt hatte: Wenn eine Kreatur in Not ist, ist Wegsehen das Schlimmste, was du tun kannst. Du könntest ihre Hilfe irgendwann gebrauchen und wirst auch froh sein, wenn sie nicht wegsieht. Außerdem sagte er auch: Pinkel niemals in den Brunnen, der deinen Weg kreuzt. Du weißt nicht, ob du sein Wasser irgendwann trinken musst. Nach der Devise lebten wir. So meinte Opa, sollten Menschen sein. Und wir fühlten uns gut dabei, das Menschliche zu vertreten. So konnten wir jeden Abend mit gutem Gewissen schlafengehen, bis … bis sie ihn zerfleischt hatten. Seitdem kam ich gar nicht mehr zur Ruhe. Das Knacken seiner brechenden Knochen und das Reißen seines Fleisches verfolgten mich in jeder Sekunde. Das Knurren der Wölfe ließ mich erschauern, allein, wenn ich daran dachte.
Besagtes Knurren riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte es schon einmal gehört und danach immer und immer wieder … Deswegen zog sich jetzt alles in mir zusammen, als ich mich umblickte. Fast hoffte ich, es würde der Panther sein, aber er war es nicht. Stattdessen näherte sich mir ein schwarzer Wolf. Obwohl ich sonst ein Spitzengehör hatte, war es ihm gelungen, sich unbemerkt anzuschleichen.
Meine Augen wurden groß, als ich der Bestie in die stechend gelben Schlitze blickte. Sofort wusste ich, welcher Wolf mir gerade seine Aufwartung machte. Es war der Anführer des Rudels, welches meinen Opa zerfleischt hatte. Dieser hier hatte ihm, vor dem Festmahl, gnädigerweise die Kehle durchgebissen. Er war es auch gewesen, der mir noch mal in die Augen gesehen hatte, bevor er ein Stück aus dem Bauch meines Opas gerissen hatte. Es war eindeutig, dass dieses Rudel aus Gestaltwandlern bestand und somit eine menschliche Seite besaß, denn kein Tier war jemals sadistisch.
Seine Lefzen waren zurückgezogen und er präsentierte mir elfenbeinfarbene riesige Reißzähne, die er jeden Moment in mich bohren würde. Sein Fell war lang und tiefschwarz, die Pfoten so groß wie mein Gesicht. Er musste sich etwas bücken, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
Ich sah in diese kalten Augen und konnte den Menschen dahinter ausmachen. Der Ausdruck dieser dunklen Tiefen war nicht neckisch, nicht freundlich, nicht mal ausgehungert, sondern einfach nur gemein. So fies kann dich ein Tier nicht ansehen. Das bringt nur ein Mensch zustande.
Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus und ich bereute es, den Dolch weggesteckt zu haben. Ich bereute vieles, aber am meisten bereute ich, nicht oben bei dem Panther geblieben zu sein, bei dem Mann, der im Laub unter mir gelegen und mich offen und verspielt angelächelt hatte, während sein Arm mich hielt … und mir komischerweise Schutz bot.
Der Wolf schnaufte und schaute weg, nach links. Seinem Blick folgend bemerkte ich, dass neben ihm noch einer aus dem Gebüsch trat. Er war weiß wie Schnee, nur seine Nase war schwarz. Die Augen hellblau wie die Gletscher der Eisebene. Er stupste den schwarzen Wolf ein wenig mit dem Kopf in die Seite, als wolle er ihn von mir wegschieben, ohne ihn zu verärgern, doch der knurrte und schnappte gefährlich nach dem Weißen. Irritiert betrachtete ich die beiden. Der mit den Eisaugen war mir völlig unbekannt. Er war auch nicht bei dem Überfall auf mich und meinen Opa dabei gewesen. Das wäre mir sicherlich aufgefallen. Insgesamt sahen sie sich bis auf die Fell- und Augenfarbe unglaublich ähnlich, waren aber gleichzeitig so verschieden wie Tag und Nacht. Wo der schwarze Wolf schon eine gefährliche Ausstrahlung in sich trug, schien der weiße beinahe freundlich. Er wirkte sogar ein wenig größer und stattlicher als sein Artgenosse, war aber dennoch eindeutig nicht der Alpha. Meine irrsinnigen Vergleiche wurden unterbrochen, als mich die schwarze Bestie wieder ins Visier nahm.
Ich musste etwas tun, wenigstens Zeit schinden.
»Ähm, könnte ich noch etwas sagen, bevor du mich auffrisst?« Ich wählte die Höflichkeit, denn hinter diesen Augen befand sich ein Mensch und er verstand meine Worte zu gut. Er wartete, rührte sich nicht. Also sprach ich weiter: »Ich habe gestern aus Versehen einen giftigen Pilz gegessen. Mir ist immer noch ganz schlecht davon, außerdem hab ich Halluzinationen und ich glaube, dir würde es auch nicht gut bekommen.« Ich hielt mir den Bauch und wusste, dass mein Schauspiel miserabel anmutete, doch ich folgte, wie immer der Devise »Überleben ist das Wichtigste« und so versuchte ich es wenigstens! Vorsichtig linste ich erneut hoch.
Der weiße Wolf schnaubte abfällig, fast schon ironisch. Der andere ließ sich nicht beeindrucken und strich sich als Antwort mit rosa fleischiger Zunge betont langsam über die Reißzähne. Frustriert ballte ich die Hände zu Fäusten.
Ich überlegte, ob ich es schaffen würde, das Messer zu ziehen, bevor er mir an die Kehle ging. Aber das war ein Ding der Unmöglichkeit, denn er war einfach zu nah!
»Dieser Pilz ist wirklich nicht zu unterschätzen. Mein Fleisch ist sicher ganz ekelhaft und zäh. Ich fühle mich schon ganz … faulig«, merkte ich noch an, doch er reagierte nicht. Wie lange würde er es denn noch hinauszögern? Genügte es ihm nicht, dass der Schweiß, der soeben noch vom Wasser abgewaschen worden war, jetzt wieder an Stirn und Hals hinabströmte, und dass mein Herz versuchte, mich von innen heraus zu erschlagen? Konnte er nicht einfach nur mit seinem Mittagsmahl beginnen und dem endlich ein Ende bereiten?
Bei diesem Gedanken wurde es mir endgültig klar: Ich empfand keine Angst um mein Leben. Obwohl ich geradewegs in die Augen der Bestie blickte. Stattdessen wehrte ich mich nur aus Prinzip und versuchte deshalb, den Wolf vor mir in Grund und Boden zu quatschen, um nicht kampflos aufzugeben. Hieß das etwa, ich hatte mich mit meinem Tod abgefunden, nachdem mein Opa gegangen war? Hieß das, ich hatte die Hoffnung verloren? Innerlich zuckte ich vor diesem Gedanken zurück. Denn das würde bedeuten, ich hätte mich aufgegeben ...
Der Wolf machte sich bereit … Er hob seine Lefzen, präsentierte seine Zähne und knurrte so stark, dass die Erde unter mir vibrierte. Jetzt würde er angreifen. Ich erkannte es an dem leichten Anspannen seines Körpers.
Doch plötzlich durchschnitt ein anderer grollender Laut die bedrohliche Situation – noch tiefer und eindringlicher als der erste. Verblüfft sah ich zu dem weißen Wolf, ebenso wie der Schwarze. Vermutlich war er der Meinung, er hätte sich verhört. Doch der mit den Eisaugen knurrte tatsächlich seinen Alpha an und präsentierte genauso imposante Beißerchen, zwischen die ich nicht geraten wollte. Der Ranghöhere machte einen drohenden Schritt auf den Weißen zu. Dieser wich zurück und hörte sofort auf, als erneut nach ihm geschnappt wurde. Es war schrecklich! Sie waren mir so nah, dass sie mich im Falle eines Kampfes verletzen würden. Der schwarze Wolf ging weiterhin demonstrativ auf den weißen zu, woraufhin dieser sich schließlich mit eingezogenem Schwanz auf den Rücken legte und als Unterwürfigkeitsgeste seinen empfindlichen Bauch präsentierte. Hä? Ich verstand nun gar nichts mehr!
Sein Artgenosse schien damit wohl zufrieden zu sein und wandte sich etwas abgelenkt mir zu. Gerade spannte er sich wieder an, da grollte es erneut!
Wie sahen beide zu dem Blauauge, ich mit gerunzelter Stirn, er eindeutig irritiert. Der Weiße hatte sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet und drohte dem Schwarzen wieder. Dieses Mal konnte ich wirklich die Verwirrung und auch den Zorn über die Herausforderung in den gelben Augen erkennen, als er auf den Weißen zumarschierte, der aber sofort wieder nachgab und sich gehorsam auf den Rücken legte.
Ich fragte mich, was er mit dieser Show bezweckte? Es wirkte, als würde er versuchen Zeit zu schinden. Das war natürlich absolut abwegig, denn wieso sollte er mir helfen wollen, wo er doch garantiert genauso scharf auf mich war wie jeder andere fleischfressende Gestaltwandler?
Der Gelbäugige wandte sich erneut mir zu. Mir war klar, dass er sich jetzt beeilen würde, doch er kam nicht weit, weil plötzlich eine dröhnende weibliche Stimme ertönte.
»Halt!«, verlangte sie und all unsere Blicke flogen nach links. Dorthin, wo etwa zehn Amazonen mit gezogenen Waffen standen und auf die Wölfe zielten. »Verschwindet!«, forderte die vermeintliche Anführerin. Sie hatte schwarze lockige Haare, eine breite Stirn, noch breitere Wangenknochen und tief liegende, dunkelbraune Augen. Ihr Körper war komplett unbekleidet, was auch sonst?, sodass ihre Muskelberge deutlich wurden. Selbst ihre braun gebrannten Arme und Schultern waren so kräftig, dass sie drohten zu platzen. Alles in allem erinnerte sie eher an einen Mann als eine Frau. Ohne mich weiter zu beachten, zielte sie mit der Armbrust auf den Wolf direkt vor mir.
Der Wolf knurrte lauter und duckte sich, doch er trat einen unwilligen Schritt von mir zurück, dann noch einen, und noch einen ... Mir wurde leicht ums Herz, als er sich von mir abwandte und, ohne die Amazonen aus den Augen zu lassen, im Gebüsch verschwand. Der andere folgte ihm beschwingt, doch bevor er in das Dickicht sprang, drehte er sich noch einmal zu mir um und zog die Lefzen hoch. Ich wusste, dass er mich nicht anknurrte, denn in seinen unglaublich hellen Augen konnte ich ein schelmisches Grinsen erkennen.
Meine Lippen offenbarten automatisch ein schüchternes Lächeln, bis mir aufging, was ich da gerade tat! Ich grinste einen Gestaltwandler an! Schnell wischte ich die Sympathiebekundung von meinem Gesicht und blickte zu meinen Retterinnen, die den Wölfen streng hinterhersahen. Als die Tiere verschwunden waren, kamen die Amazonen auf mich zu und stellten sich der Reihe nach vor mir auf.
Ich musste meine Augen mit der Hand schützen, weil die Sonnen mich blendeten. Die Mannsweiber waren wirklich sehr groß, aber nicht so wie Riesen. Sie wirkten nicht unfreundlich, aber doch etwas misstrauisch. Von allen Seiten wurde ich kommentarlos beäugt ... Schließlich streckte eine den Fuß nach mir aus und tippte mich zögernd mit den Zehen an, als wäre ich so fremdartig, dass sie erst mal testen mussten, ob ich beißen oder sie jeden Moment anspringen könnte.
Ich wollte hier nicht länger am Boden rumsitzen, besonders weil sie nackt waren und mir der Ausblick nicht gefiel, also rappelte ich mich verlegen auf.
»Hallo!« Sie antworteten nicht. Schüchtern winkte ich ihnen zu. »Ich bin Seraphina«, ergänzte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Außer vielleicht: »Danke, dass ihr mich gerettet habt!«
»Was bist du und was ist deine wahre Gestalt?«, fragte schließlich die Schwarzhaarige. Sie hatte einen Damenbart.
»Ein Mensch«, entgegnete ich leise und endlich regten sich ihre Gesichter. Verwundert sahen sie sich gegenseitig an.
»Menschen gibt es nicht«, meinte eine Blonde, die hinter der Schwarzhaarigen stand und ihre Hand hielt. »Das kann nicht sein, zeig dich uns«, nuschelte eine Braunhaarige.
»Ich bin hier und ich bin ein Mensch. Es ist eine sehr lange Geschichte.« Müde zuckte ich die Schultern und kam mir, im Gegensatz zu ihnen, winzig vor.
»Was tust du hier?«, fragte die mit dem Bärtchen. Anscheinend hatte sie meine Aussage akzeptiert. Vielleicht konnte sie die Wahrheit in meinen Augen sehen. Lügen war noch nie meine Stärke gewesen.
»Ich will in die Waldebene zum Pan«, murmelte ich leise.
»Dafür musst du durch den ewigen Sand«, zwitscherte die Blonde. Ihre Stimme war ein wenig heller als die der anderen und ihr Haar hing in zwei langen geflochtenen Zöpfen über ihre riesigen Brüste, die ich zwanghaft versuchte nicht anzublicken.
»Ich weiß.«
»Bist du dort schon einmal gewesen?«, dröhnte die Schwarzhaarige.
»Schon öfter.« Ich wusste, dass die Wüste sehr gefährlich war, doch ich hatte bis jetzt jedes Mal überlebt.
»Was willst du beim Pan?«, fragte sie, unbeeindruckt davon, dass ich noch lebte.
»Ich möchte ihn um Hilfe bitten. Er ist mein Freund.« Mein Einziger.
»Im Reich des Waldes gehen in letzter Zeit schlimme Dinge vor sich. Du solltest da nicht hingehen.«
Aber ich musste dorthin. Der Pan war der Einzige, dem ich in dieser verworrenen Welt vertraute, weil er ein alter Bekannter meines Opas war und ich ihn von Kindesbeinen an kannte.
»Mir bleibt nichts anderes übrig, ich muss dorthin. Egal, wie gefährlich es dort sein mag.« Ich knetete meine Hände. Was sollte ich sagen? Mein Opa ist gestorben und ich finde keinen anderen Ausweg? Ich will nicht allein bleiben? Bitte helft mir …
Sie mussten etwas von meiner Verzweiflung in meinen Augen gesehen haben, denn schließlich meinten sie: »Dann bringen wir dich bis an die Grenze des Dschungels, von da an musst du dich allein durchschlagen.« Was mich überraschte! Damit hatte ich nie und nimmer gerechnet! Das zeigte wohl auch mein Gesicht, denn plötzlich lächelten sie alle nachsichtig.
»Ich danke euch«, stammelte ich verwirrt, während sie sich schon umdrehten und losmarschierten. Ich musste fast rennen, um mit ihnen Schritt zu halten. »Aber wieso … tut ihr das?«, fragte ich die Blonde, die mich verschwörerisch angrinste. »Was?«
»Na, mir helfen?«
»Weil du wie wir eine Frau bist.« Sie boxte mir dabei gespielt gegen mein Kinn, wodurch mein Kopf fast abflog. Aha, na gut, wieso auch immer. Schmollend rieb ich mir das geschändete Körperteil und versuchte sie nicht vorwurfsvoll anzublicken. Von da an folgte ich ihnen stumm, was anstrengend war, denn sie hatten wirklich ein unglaubliches Tempo drauf. Zwar boten sie mir an, mich zu tragen, aber ich lehnte dankend ab. Dabei wäre ich ihren riesigen Brüsten viel zu nahe gekommen.
Es dauerte zwei Tage, bis wir den Rand des Dschungels erreichten. Keiner störte uns oder griff uns gar an, und ich verstand es, als ich die vielen Dolche, Messer und andere Waffen bemerkte, die sie sich mit Lederriemen um den Körper gewickelt hatten. Ich hätte mich auch nicht mit ihnen angelegt. Mit einer allein schon, aber nicht mit zehn beziehungsweise zwanzig!
Zum Abschied wollten sie mich zum Glück nicht umarmen. Mein Gesicht befand sich genau in Brusthöhe und ich war mir sicher zu ersticken, wenn sie mich freundschaftlich drücken würden. Sie sagten nur: »Pass auf dich auf, kleine Menschenfrau.« Das » ›klein‹« hätten sie sich sparen können, denn das war ich nicht. Dann drehten sie sich um und verschwanden geräuschlos im Dschungel.
Auch gut!
***
Nun befand ich mich also hier an der Grenze zur Sandebene. Die Luft vor mir flimmerte, als wäre sie verzaubert oder elektrisiert. Riesige, kunstvoll geschwungene Wüstenbänke erstreckten sich am Horizont. Unberührte Erde. Dürre ausgetrocknete Bäumchen stachen aus dem kräftig orangefarbenen Sand hervor, wie Knochen aus einem Grab. Die zwei roten Sonnen waren gerade aufgegangen. Eine stand schon höher am grellblauen Himmel als die andere, sodass es aussah, als würden sie ein Wettrennen veranstalten. Sie brannten mir schon jetzt heftig auf den Kopf und ich hatte nicht mal ein Tuch dabei, das mich vor der Hitze schützte, oder ein Band, mit dem ich meine wirren dreckig braunen Locken hochbinden konnte. Meine Wasserflasche, die auch an meinem Gürtel hing, hatte ich aufgefüllt. Sie würde aber für den gesamten Marsch nicht reichen. Ich musste auf jeden Fall eine Oase aufsuchen.
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte, weg von dem kühlen Holz und den winzigen grünen Pflanzen direkt auf den heißen Sand, der mir die Fußsohlen verbrannte. Mit zusammengebissenen Zähnen ging ich jedoch weiter, denn an die Wärme musste ich mich wohl oder übel gewöhnen. Meine Schuhe hätten einiges erleichtert, doch sie waren weg und ich würde sie nicht wiederbekommen.
Diesen Teil meiner Reise musste ich schnell und ohne zurückzublicken hinter mich bringen, denn in der Wüste lebten einige unliebsame Bewohner, zum Beispiel die Bilokos: bösartige Zwerge, die auf Bäumen hausten und nur darauf warteten, dass ein Ahnungsloser vorbeiging, um ihn nach oben zu ziehen und mit ihren riesigen Mäulern in einem Stück zu verschlingen. Ihre gesamten knochigen Körper waren mit Gras überwuchert, weswegen man sie in den Baumwipfeln der Oasen nicht erkennen konnte. Deshalb würde ich von ihnen Abstand halten, egal wie Schatten spendend sie auch wirkten.
Während ich also durch die Hitze marschierte, dachte ich an all die Wesen, die mir begegnet waren, seitdem Opa weg war. Zum Beispiel an den Panther – bei ihm strandeten meine Gedanken am häufigsten … Wieso hatte er mich nicht gefressen oder angegriffen, sondern mich nur versucht zu verführen? Ich erinnerte mich an seinen Daumen, mit dem er über meine Unterlippe gestrichen hatte, und erwischte mich dabei, wie ich mit meiner Zunge imitierend über das trockene Fleisch fuhr. Schnell schüttelte ich den Kopf, um die orangeglühenden Augen zu verdrängen.
Stattdessen ließ ich meine Gedanken zu dem weißen Wolf schweifen. Er hatte seinen Anführer provoziert und ihn erfolgreich davon abgehalten, mich zu fressen, bis die Amazonen gekommen waren. Aber wieso? Als ich an ihn und seine intelligenten eisblauen Augen dachte und wie er mir noch mal zugegrinst hatte, bevor er im Wald verschwunden war, ertappte ich mich erneut dabei, wie ich lächelte.
Was war nur los mit mir? Fand ich langsam Gefallen an den Monstern? Nein! Niemals!
Mit diesen Bestien wollte ich mich nicht auseinandersetzen, nicht einmal mental, also verdrängte ich die irritierenden Bilder und rief mir eine Erinnerung ins Gedächtnis, die sehr schmerzhaft war, doch ich wollte ihn um keinen Preis vergessen.
Opa.
Er hatte mir immer viel über die Menschen erzählt, damit ich in dieser verrückten Welt den Bezug nicht verlor. Es war fast, als würde er versuchen, mich mit seinen Geschichten auf etwas vorzubereiten, aber keiner, außer ihm, wusste worauf. Er verriet mir, dass die Homo sapiens Wesen waren, die sich von ihren Unsicherheiten leiten und blenden ließen, weshalb er mich darauf trimmte, mich nicht von meinen Ängsten und Befürchtungen lenken zu lassen. Er verkündete immer: Angst ist nur da, um dich zu lähmen und dich zum Aufgeben zu zwingen. Laufe vor ihr davon und sie wird dich verfolgen. Laufe ihr entgegen und sie wird die Flucht ergreifen. Ich versuchte nach seinen Weisheiten zu leben, aber das war meistens leichter gesagt als getan. Er schien niemals Furcht gehabt zu haben, nicht einmal, als die Wölfe ihn umzingelt hatten. Und das war ihnen nur deswegen gelungen, weil er ihre volle Aufmerksamkeit auf sich und von mir weggelenkt hatte, indem er sich in den Arm geschnitten hatte, um sie das frische Blut wittern zu lassen.
Seine letzten Worte an mich waren: Schau niemals zurück, sondern immer nach vorne! Nur dort können neue Fallen aber auch das Glück lauern. Diesen Rat konnte ich ausnahmsweise nicht befolgen. Er war schließlich der Einzige in dieser Welt gewesen, der mich beschützt und mich geprägt hatte. Auch wenn ich wieder weinte, verlor ich mich weiter in der Vergangenheit.
Ich fragte mich, wieso er mir nie etwas von meinen Eltern und von meiner Herkunft erzählt hatte. Es musste doch einen Grund geben, aus dem wir beide die einzigen Menschen in dieser Welt waren. Irgendwo musste doch dieser Ort existieren, aus dem wir stammten! Der unser Zuhause war! Ich hätte gerne gewusst, wo meine Eltern waren, um sie selber zu fragen, warum ich ohne sie zurechtkommen musste, doch mein Opa sprach nicht über sie. Sie gehörten eben zur Vergangenheit …
Zu oft ertappte ich ihn allerdings dabei, wie er mich mit Zuneigung und voller Erinnerungen im Blick betrachtete. Ich wusste, er dachte an seine Tochter – meine Mutter. So viel konnte ich ihm entlocken. Er sagte, ich habe genauso strahlende, wissende Augen wie sie, auch wenn meine etwas schlammiger grün waren als ihre. Ja, so war er, niemals nur aus Höflichkeit nett, sondern immer geradeheraus. Ich denke, im Alter von sechsundachtzig Jahren kann man es sich schon mal leisten, jedem die Meinung ins Gesicht zu sagen und auch mal auszuteilen. Man hat ja auch lang genug eingesteckt.
Trotzdem wünschte ich mir, er hätte länger gelebt. Dann hätte ich mich jetzt nicht so schrecklich verlassen und einsam gefühlt.
Ich setzte meinen Weg weiter heulend durch den heißen Sand fort, unter der noch heißeren Sonne, und schaute nicht nach links und nach rechts, als ich plötzlich etwas spürte … Das geschah gelegentlich und ließ sich wohl mit Ahnungen vergleichen ... Also blickte ich auf und wischte mir schnell die letzten Tränen aus den Augenwinkeln. Im Gehen drehte ich mich um und blieb schockiert stehen, denn mir folgte der weiße Wolf!
Seine Zunge hing ihm seitlich aus dem Maul und er grinste mich eindeutig wieder an. Murrend scannte ich die Gegend nach den anderen Wölfen ab, doch es war nichts weiter zu sehen als Sand, Sand und noch mal Sand. Naja, noch ein paar verdurstende Bäumchen und die glühenden Sonnen. Um genau zu sein.
»Was willst du von mir?«, rief ich ihm zu. Er setzte sich einfach nur hin, ganz gemütlich, so als würde ich mich normal mit ihm unterhalten und nicht gleich einen cholerischen Anfall kriegen.
Woraufhin ich den Kopf schüttelte. Wenn ich daran dachte, dass er meine Tränen mitbekommen haben musste, wurde mir ganz anders. »Verfolgst du mich etwa?« Er legte den Kopf leicht schief. So auf die Art: vielleicht, vielleicht auch nicht … Arschwolf!
Ich verengte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. »Hör auf, mir hinterherzulaufen! Ich komme super allein zurecht! Wenn ich jetzt weitergehe, will ich, dass du sitzenbleibst. Ich kann nicht durch die Wüste spazieren, wenn ich von einer Bestie verfolgt werde, die mir jeden Moment in den Rücken springt.«
Er schnaubte, blieb aber sitzen. »Jaaaa, du hast schon richtig verstanden!«, rief ich. »Ihr seid alle gleich. Alles fleischfressende Monster!« Nach diesen Worten drehte ich mich um und marschierte weiter.
Natürlich konnte ich ihn nicht komplett ignorieren und blickte über meine Schulter, in der Hoffnung, dass er entweder verschwunden war oder dort noch saß. Nur leider hatte er mir offenbar nicht zugehört, denn er trottete, als wäre es völlig normal, hinter mir her. Ich ballte die Hände zu Fäusten, ging aber weiter, während ich zurückschrie:
»Geh nach Hause und jag ein paar Unschuldige!« Er blieb nicht stehen, sondern grinste nur schon wieder auf diese dämliche Wolfsart. »Kannst du mich nicht verstehen, oder willst du mich nicht verstehen?« Mit einem Ruck wirbelte ich herum, beugte mich hinab und nahm eine Handvoll Sand, den ich nach ihm schmiss! Doch er war viel zu weit weg, als dass ihn auch nur ein Körnchen berührt hätte. »Hör auf, mir hinterherzulaufen!«, brüllte ich nun durch die halbe Wüste. »Ich brauche kein Kindermädchen!« Wütend drehte ich mich um und stapfte weiter, während ich murmelte. »Ich brauche niemanden!«, außer meinen Opa ...
Ab da befolgte ich den Rat meines Opas und schaute nicht mehr zurück, doch ich war mir sicher, dass er mir weiter auf den Fersen war. Gut, wenn er so viel Zeit hatte, mir nachzulaufen, dann sollte er das tun. Kurioserweise hatte ich keine Angst vor ihm. Ich war mich sicher, dass er mich nicht zerfleischen wollte, denn er hätte es ansonsten schon längst getan. Nur eins wusste ich, von meinem Wasser würde ich ihm nichts abgeben, auch wenn die Sonnen ihm den Pelz verbrannten. Ab da an versuchte ich ihn auszublenden, zumal meine Sinne bei ihm ohnehin nicht Alarm schlugen, und ließ den Wolf einfach Wolf sein. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, nicht mehr zu weinen. Das ist gar nicht so leicht, wenn man sich einsam und verlassen fühlt.
Als Mädchen, allein in dieser Welt, ohne jegliche Hilfe, würde man sich schon gerne tief im Sand eingraben und sich eine Runde selbst bemitleiden, oder am besten da unten bleiben und nie wieder hochkommen. Das wäre auch eine Möglichkeit.
Stattdessen marschierte ich verbissen weiter, einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen.